Beina­he hätte ich das Buch noch auf der ersten Seite zugeklappt und in den Papierko­rb geschmis­sen. Da ste­ht näm­lich so hirn­ver­bran­nter Unsinn wie:

„Hol dir den Siegerkranz, oder stirb bei dem Ver­such, ihn zu erlan­gen. Ver­lieren heißt ster­ben, gewin­nen heißt leben. […] Sport ist ego­is­tisch, weil man ego­is­tisch sein muss, um kämpfen und lei­den zu kön­nen, um die Ein­samkeit und die Hölle zu lieben. […] Denn ver­lieren heißt ster­ben. Und du kannst nicht ster­ben, ohne alles gegeben zu haben, ohne dass Schmerzen und Wun­den dich zum Weinen gebracht hät­ten. Du darf­st nicht aufgeben. Du musst kämpfen bis zulet­zt. Denn Ruhm ist das Aller­größte, und dein einziges Ziel muss sein, ihn zu erlan­gen oder auf der Strecke zu bleiben, nach­dem du alles gegeben hast. […] Es ist an der Zeit zu lei­den, es ist an der Zeit zu kämpfen, es ist an der Zeit zu siegen. Lauf oder stirb! (9f.)

Zum Glück — und das ist wirk­lich ein Glück — ist es mit solch markig-mar­tialis­ch­er gewalt- und kriegsver­her­rlichen­der Sprüchek­lopfer­ei dann auch schnell wieder vor­bei. Denn der Rest von Lauf oder stirb (der Titel hätte mich ja war­nen kön­nen) ist ein aus­geze­ich­netes Lauf­buch.

jornet, lauf oder stirbDa geht es näm­lich wirk­lich um das Laufen. Und natür­lich um Kil­ian Jor­net. Das führt dazu, dass “Laufen” hier manch­mal etwas anderes ist als das, was “nor­male” Men­schen darunter ver­ste­hen. Jor­net, in den Bergen geboren (der Hin­weis darf nie fehlen …), schon früh von seinen Eltern in das Wet­tkampfgeschehen der Bergsportarten, ins­beson­dere des Skiberg­steigens, einge­führt, läuft näm­lich vor allem sehr extrem. Fast nur im Gebirge, gerne mal ohne Weg und Steg, gerne mal weit über das hin­aus­ge­hend, was vernün­ftig ist und mit halb­wegs real­is­tis­ch­er Risikoein­schätzung noch zu vertreten ist. Nachah­men sollte man das also nicht unbe­d­ingt. Lauf oder stirb hat aber auch gar nicht Anspruch, ein Anleitungs­buch zu sein: Es gibt keine Train­ingspläne (die wer­den nicht ein­mal erwäh­nt), keine Aus­rüs­tungstipps, es ist keine Ernährungs­bibel und auch kein Weg­weis­er zu beson­ders tollen Trails. Stattdessen erzählt Jor­net wirk­lich vom Laufen und der Fasz­i­na­tion daran: Der Fasz­i­na­tion des Draußen-seins: Dem Erleben der Umwelt, der Berge und Gebirge, der Pflanzen und der Tiere, dem Wet­ter und der Aus­sicht­en, den Naturschaus­pie­len.
Der Fasz­i­na­tion der kör­per­lichen Erfahrung: Das wörtliche erlaufen neuer Hor­i­zonte, neuer Höhen und Gebi­ete.
Der Fasz­i­na­tion der Her­aus­forderung von Gren­zen und dem Über­schre­it­en.
Der Fasz­i­na­tion des Laufens nicht nur als Bewe­gung­form, als Ablauf von Bewe­gun­gen (auch das spielt aber eine Rolle), son­dern auch als eine Art Exis­tenz, ein psy­chis­ch­er Zus­tand, eine Art Sucht.
Und, nicht zu vergessen: die Fasz­i­na­tion des Gewin­nens.
Denn der Jor­net, der sich hier präsen­tiert, läuft um zu siegen, er ist ein (rein­er) Wet­tkampfläufer: Läufe, die der Vor­bere­itung, dem Train­ing dienen oder ein­fach so unter­nom­men wer­den, spie­len hier kaum eine Rolle. Es geht ums gewin­nen. Oder sie dienen dazu, andere zu besiegen. Im direk­ten Ver­gle­ich wie beim UTMB oder im Unter­bi­eten von Bestzeit­en (zum Beispiel beim TRT oder auf dem Kil­i­mand­scharo): Auf das Siegen kommt es an.

Ich genieße den Wet­tkampf. Jeden davon möchte ich gewin­nen und dabei das Gefühl erleben, als Erster durchs Band zu laufen. Es ist wun­der­bar, nach der let­zten Kurve in die Ziel­ger­ade einzu­biegen und das Band am Ende zu erspähen. Mich noch ein­mal umzu­drehen und zu verge- wis­sern, dass nie­mand mir diesen Moment nehmen kann. Nach vorne zu schauen, die Augen zu schließen und noch ein­mal Gas zu geben, um mich vom Pub­likum zum Sieg tra­gen zu lassen. In jen­em Moment vergesse ich den Schmerz, spüre ich meinen Kör­p­er nicht mehr, son­dern bin, von den Emo­tio­nen dieser let­zten Sekun­den erfüllt, ganz bei mir. Und dann füh­le ich, wie mein schweiß­nass­er Kör­p­er das Ziel­band zer­reißt und es zu Boden fällt. (31)

Das macht Jor­net allerd­ings nicht alleine, son­dern aus­ge­sprochen pro­fes­sionell mit großer Mannschaft, die schnell zwei Dutzend und mehr “Mitar­beit­er” umfasst. Das fand ich etwas schade, dass er diesen Umstand gerne etwas abtut: Natür­lich sind die ihm wichtig — die Höflichkeit gebi­etet das, aber beson­ders detail­liert oder inten­siv geht er nicht auf sie ein, wed­er auf die Läufer, die ihm als Tem­po­mach­er dienen (er nen­nt das meis­tens “Train­er”), noch das Ver­sorgung­steam und schon gar nicht der große medi­ale Zirkus. Dass sein Spon­sor Salomon bei der Pyrenäen­querung auch einen Hub­schrauber im Ein­satz hat­te, erfährt man hier nicht — an weni­gen Stellen wer­den Kam­eraleute und Fotografen immer­hin erwäh­nt.

Das soll jet­zt über­haupt nicht seine Leis­tung schmälern, hätte vielle­icht aber ein voll­ständi­geres Bild abgegeben. Denn Jor­net ist, wie vielle­icht kaum ein ander­er Trail-/Ul­tra­läufer über­haupt, eine medi­ale Insze­nierung, die sein Spon­sor maßge­blich vorantreibt. Das mag, um wieder zum eigentlichen zurück­zukom­men, mit seinem Lauf­stil zusam­men­hän­gen: Laufen, das ist für Jor­net ein „Tanz mit den Hin­dernissen“ (66). Dazu gehört auch, sich irrsin­nig irgendwelche Hänge und Rin­nen her­abzustüren, über Grate zu bret­tern — und dabei noch lock­er und genießend auszuse­hen. Davon erfährt man auch in Lauf oder stirb viel. Und von dem, was in einem solchen Aus­nah­meläufer während des Laufens vorge­ht, wie er das Laufen, seine Umge­bung und sich selb­st wahrn­immt — das sind großar­tige Pas­sagen wie diese hier:

Inmit­ten dieser Far­ben­pracht gle­ichen wir Tänz­ern, die sich im Rausch der Kraft fort­be­we­gen. Wir spie­len mit dem bre­it­en, sich wellen­för­mig dahin­schlän­gel­nden Weg, der uns alles gibt, was wir brauchen, um Spaß zu haben. Jede Kurve, jedes noch so kleine Gefälle, jed­er Son­nen­strahl, der uns trifft, belebt unser Tem­po. Jede Ausrede ist recht, um die Schrit­tfre­quenz mein­er Beine zu erhöhen und zu spüren, wie meine Muskeln sich beim Abstoßen vom Boden zusam­men­ziehen und während der Flug­phase vol­lkom­men entspan­nen. Meine Uhr zeigt mir an, dass ich mich mit sechzehn Stun­denkilo­me­tern fort­be­wege. Ich füh­le mich wirk­lich gut, und meine Füße wür­den den Unter­grund am lieb­sten gar nicht berühren. Wir kom­men mit großer Geschwindigkeit zwis­chen den Bäu­men voran, fliegen förm­lich mit leisem Schritt und gle­ich­mäßiger Atmung, sodass uns nichts ent­ge­ht, was um uns herum passiert. (62)

Natür­lich gehört auch der Schmerz dazu, die Über­win­dung, das Lösen von Prob­le­men — sei es der Ver­sorgung, der Ori­en­tierung oder der Musku­latur, die vielle­icht nicht ganz so unternehmungslustig ist.

Die Besessen­heit, mit der sich Jor­net dem Laufen ver­schreibt, ist sich­er nicht ganz üblich. Nicht ganz durch­schnit­tlich sind aber auch seine Voraus­set­zun­gen. Für ihn ist es vor allem die Psy­che, die ihn zum Gewin­ner macht. Das ist natür­lich min­destens Under­state­ment, eigentlich sog­ar etwas geschum­melt. Denn natür­lich geht so etwas — Spitzen­leis­tun­gen wie der mehrfache Sieg beim UTMB oder ähn­lich­es — nicht ohne entsprechende phys­i­ol­o­gis­che Voraus­set­zun­gen. Aber man sollte bei einem Läufer­buch vielle­icht auch nicht jedes Wort auf die Gold­waage leg­en. Denn unab­hängig von meinen kleinen Ein­wän­den1 ist Lauf oder stirb ein tolles Buch, dass die grandiosen Erfahrun­gen, die man — ob man so schnell, weit und extrem läuft wie Jor­net oder wie ich etwas gemäßigter 😉 — beim Laufen immer wieder machen kann, sehr anschaulich und ger­adezu mitreißend beschreibt.

Kil­ian Jor­net: Lauf oder stirb. Das Leben eines bed­i­n­ungslosen Läufers. München: Malik 2013. 222 Seit­en. ISBN 9783890297644.

  1. Dazu gehört übri­gens auch noch die Kri­tik am etwas schlampi­gen Lek­torat, dass doch tat­säch­lich mehrmals (S. 15 u.ö.) Gal­izien statt Gali­cien ste­hen lässt!