Übers Laufen und was sonst so draußen passiert.

Kategorie: Lesestoff (Seite 3 von 4)

Zu Fuß quer durch Amerika

Tom McNab hat mit “Trans-Ameri­ka” wahrschein­lich das beste Lauf­buch geschrieben. Wobei die Ein­stu­fung als “Lauf­buch” etwas schwierig ist, denn McNab hat ein­fach einen guten his­torischen Roman geschrieben. Dessen Sujet ist aber (zufäl­lig?) ein Lauf. Und nicht eben irgen­dein Lauf, son­dern der erste Tran­skon­ti­nen­tal­lauf der Geschichte, von Charles Flana­gan 1931 quer durch die USA. Das Laufen der über 5000 Kilo­me­ter lan­gen Strecke an sich ist aber nicht das Zen­trum dieses Buch­es, son­dern der soziale Rah­men, der Mikrokos­mos des Läufer-Tross­es, die sozialen Inter­ak­tio­nen inner­halb dieser eher zufäl­lig zusam­mengewür­fel­ten Gruppe und ihre Inter­ak­tio­nen mit dem Umfeld, dem Rest der Welt — einzeln und als Gruppe.

Der Trans-Ameri­ka-Lauf, den McNab hier beschreibt (er stützt sich lose auf ein real stattge­fun­denes Ren­nen, den Bunion Der­by von 1928), ist eine pro­fes­sionelle Ver­anstal­tung, die dem Prof­it des Unternehmers Charles C. Flana­gan dienen soll — über den Umweg der Unter­hatlung für die Zuschauer. Das Laufen ist also nicht ein Selb­stver­wirk­lichungstrip wie heute so oft. Die Prob­leme der Organ­ista­tion und der Läufer sind aber ähn­liche wie bei heuti­gen Unternehmungen diesen Kalibers, wobei die rein läuferische Bewäl­ti­gung dieser Strecke und die damit ver­bun­de­nen Prob­leme zwar vorkom­men, aber ins­ge­samt eine nachrangige Stel­lung ein­nehmen.

Der Lauf startet mit einem riesi­gen Starter­feld von über 2000 Läufern, das schnell aus­dün­nt, dann aber ziem­lich sta­bil bleibt und am Ende in New York noch fast 1000 Läufer umfasst, von denen einig zwis­chen­durch noch an obskuren Leich­tath­letik-Tunieren teil­nehmen, Boxwet­tkämpfe beste­hen oder gegen ein Ren­npferd antreten. Immer mit den entsprechen­den Wet­ten. Denn es geht vor allem ums Geld­ver­di­enen: Laufen als Geschäft — aber eben als Unter­hal­tungs­geschäft, für die Zuschauer und als Anlass für Wet­ten. Die Aus­rich­tugn war also eine andere als heute, die Per­spek­tive ver­schob sich. Das alles siedelt McNab in einem genialen Set­ting an — zur Zeit der Wirtschaft­skrise gibt es genug arme Schweine, die das als Stro­hhalm begreifen und die Gruppe der Läufer entsprechend bunt zusam­mengewür­felt erscheinen lassen. McNab fokussiert dabei erzäh­lerich auf eine kleine Gruppe an der Spitze: “Doc” Cole, “Iron Man” Mor­gan, Hugh McPhail, Lord Thurleigt — und die einzig Frau, die von Los Ange­les bis New York durch­hält, Kate Sheri­dan … Dazu mixt er ein wenig Romanze (zwis­chen Kate und Mor­gan, Flana­gans Sekretärin Dix­ie und Hugh). Geschickt set­zt er wech­sel­nde Foki zwis­chen Läufer und Ver­anstal­ter, Außen- und Innen­sicht durch Ein­beziehung der beglei­t­en­den Reporter und ihrer Veröf­fentlichun­gen ein, um gestal­ter­ische und inhaltliche Abwech­slung zu erzeu­gen. Das sportliche (oder wirtschaftliche) Ereig­nis wird noch dazu auch poli­tisch verknüpft — mit Edgar J. Hoover und seinem FBI, dem amerikanis­chen Präsi­den­ten und den Gew­erkschaften und so eini­gen wirtschaftlichen Intri­gen udn Hin­ter­hal­ten, die Flana­gan meis­tern muss — und mit Hil­fe der grandiosen Läufer und ihrer helden­haften Kam­er­ad­schaftlichkeit auch bewältigt.

Diese Mis­chung aus Intri­gen und Lieb­schaften, Sport, auch etwas Dop­ing (in der deutschen Mannschaft, mit Kokain und ähn­lichem), die Verbindung von Helden­tum und pro­sais­chem Überlebens-“Kampf”, das alles ergibt ein sehr, sehr buntes Tableau men­schlich­er Fähigkeit­en und Hand­lun­gen, die McNab geschickt miteinan­der verknüpft und in die große Rahmen­erzäh­lung, den langsam fortschre­i­t­en­den Lauf quer durch Ameri­ka, ein­bet­tet. Das klingt schon hier viel, und es ist auch viel. McNab hat das aber gut im Griff, seine Gestal­tung ist sehr abwech­slun­gre­ich, seine Phan­tasie ermöglicht ihm lebendi­ge Schilderun­gen der Szener­ie und der Geschehnisse, sein Stil ist halb­wegs ele­gant und flüs­sig zu lesen (auch wenn einige Härten drin ste­hen­bleibn, die teil­weise aber auch nach Über­set­zung­sprob­le­men ausse­hen). Und beim Lesen ver­gisst man dann gerne, dass das kom­plett fik­tiv ist. Der Roman gibt sich aber auch sehr geschickt (auch mit der “Nachbe­merkung”, die die weit­eren Kar­ri­eren der Haupt­fig­uren auflis­tet) den Anschein his­torisch­er Real­ität. Immer­hin gab es 1928 ja auch so etwas ähn­lich­es, das “Bunion Der­by”, von Charles C. Pyle auf der sel­ben Route aus­gerichtet — allerd­ings mit der real­is­tis­cheren Zahl von 275 Startern und lediglich 55 Fin­ish­ern.1

Tom McNab: Trans-Ameri­ka. Berlin: Auf­bau Taschen­buch 2010 (Auf­bau 2008). 551 Seit­en. ISBN 978–3‑7466–2584‑3.

  1. Einen knap­pen Aufriss der Geschichte dieses Laufes gibt es bei runningtimes.com: klick.

Durch die Wand — laufend

“Run­ning throug the wall” ist eine Samm­lung der Lauf-“Geschichten” einiger Ultra­läufer Amerikas, ihrer beson­ders prä­gen­den Erleb­nisse auf der Langstrecke und teil­weise auch ihrer Lauf­bi­ogra­phie: “I found out that if you spend enough time run­ning in the woods with an ultra­run­ner, you will hear a great ultra­run­ning sory. It’s inevitable.” (12) begrün­det der Her­aus­ge­ber sein Unternehmen. Meis­tens sind das kurze Texte, wenige Seit­en lang und bis auf einige Aus­nah­men auch ganz nett und flüs­sig zu lesen. Die Namen der hier Beteiligten sagen mir (naturgemäß, möchte ich sagen — ich kenne ja noch nicht mal viele deutsche Ultra­läufer-Namen) wenig bis gar nichts.

“Run­ning through the wall” ist dabei von sein­er Idee und Konzep­tion ein typ­is­ches Ultra-Buch, kön­nte man sagen: Geschicht­en von Läufern zum Anfix­en neuer Läufer. Immer getreu der alten Devise: Am meis­ten lernt man für Ultras von anderen Ultras, von Erfahrungs­bericht­en, von Laufgeschicht­en, von ersten Malen und beson­deren Erlebenis­sen auf der Strecke, von leicht­en und schw­eren Läufen, von abse­hbaren und erwarteten Prob­le­men. Für mich etwa immer wieder erstaunlich ist, wie viele bei ihren “Wet­tkämpfen” schon früh, d.h. nicht erst nach 80 oder 100 Kilo­me­tern, Prob­leme mit Blasen bekom­men … Und wie viele Hin­dernisse, persönliche/psychologische oder kör­per­liche, von den Läufern über­wun­den wer­den, für wie viele Laufen und die Ultras mehr als ein Sport, mehr als eine Freizeitbeschäf­ti­gung ist, son­dern — und das ist vielle­icht (aber nur vielle­icht) bei amerikanis­chen Läufern stärk­er aus­geprägt als bei deutschen — für wie viele mit dem Laufen Heilser­wartun­gen und Heilser­leb­nisse ganz eng ver­bun­den sind. Das hat mich etwas über­rascht.

Natür­lich gibt es auch hier ein­fach ver­rück­te Spin­ner, etwa die bei­den Bezwinger des Barkley-Laufes — ein Lauf, der darauf angelegt ist, nicht lauf­bar zu sein, zumin­d­est nicht in der vollen Länge — das über­steigt dann doch meinen Hor­i­zont: Warum sollte ich einen Lauf begin­nen (noch dazu mit mehreren Run­den), der expliz­it und über­haupt nicht gelaufen wer­den will? Die starke Extrem­isierung des Laufens hier hängt natür­lich auch damit ab, dass das alles (?) Amerikan­er sind, die nicht “nur” 100 Kilo­me­ter, son­dern gle­ich 100 Meilen laufen “müssen” (eine Strecke, die ja in Deutsch­land auch ger­ade in Mode kommt — für die ganz Harten …) — das ist schon noch ein­mal eine andere Haus­num­mer. Und 50er (egal ob Kilo­me­ter oder Meilen) spie­len hier nur eine erstaunlich geringe Rolle, sie kom­men sozusagen nur als Ein­stiegs­droge oder Train­ingslauf vor. Immer wieder wird genau das auch betont: Die “Härte” — des Laufes und sein­er Bezwinger. Es geht, so scheint es in der Zusam­men­schau, nicht immer und nicht so sehr um das Laufen oder gar den Genuss dessen, son­dern um das Über­winden von Härten, das Über-sich-selb­st-Hin­aus­ge­hen, die beson­dere, außergewöhn­liche Härte (!) der Trails, der Strecke, des Kurs­es mit ein­er manch­mal dur­chaus masochis­tisch erscheinen­den Lust an der beson­deren Qual der beson­ders lan­gen Strecke in beson­ders unwegsamen Gelände … Da wird dann auch auf­fäl­lig (zumin­d­est für mich) oft der Gebrauch von Medika­menten während des Laufes/Wettkampfes in Kauf genom­men.

Wie bei jedem echt­en Ultra­läufer­buch spie­len natür­lich auch die Mitläufer, die Ultra­szene eine gewisse Rolle. Und wie eigentlich immer ist es auch hier die Fre­undlichkeit der “Ultra­ge­meinde”, die immer wieder betont wird: Wet­tkampf, auch Konkur­renz ja, aber mit Lächeln und gegen­seit­iger Unter­stützung (zumin­d­est ein biss­chen, so lange es nicht um den Sieg geht …).

Let­z­tendlich war mir das als Buch aber ein wenig zu viel: Die Rei­hung von 39 Tex­ten zeigt, wie sehr sich viele Läufer­bi­ogra­phien ähneln kön­nen — und das Erleben der 100-Meil­er auch (einem guten Start fol­gen Schmerz und Müdigkeit, die Gedanken ans Aufgeben, die vom Willen zum Durch­hal­ten über­wun­den wer­den und schließlich das Fin­ish als Antik­li­max …) — wie gle­ich das Erleb­nis (Ultra-)Laufen für die aller­meis­ten Beteiligten sich darstellt. Gefehlt haben mir im Buch vor allem ein paar mehr Infor­ma­tio­nen über die Läufe selb­st — die kenne ich ja alle nicht per­sön­lich (von eini­gen hat­te ich immer­hin schon mal gehört), so dass ein paar Basis­in­for­ma­tio­nen mir da dur­chaus weit­er geholfen hät­ten. Und den Amerikan­ern sicher­lich auch, schließlich soll das ja ein Buch sein, dass sich nicht auss­chließlich an Ultra­läufer richtet.

Und jet­zt zum Schluss noch ein paar fast willkür­liche Zitate, die ich oben nicht unterge­bracht habe:

“ ‘What do you do with your mind when you’re run­ning a hun­dred mile?’ With­out hes­i­ta­tion, I replied, ‘Ignore it.’ ” (20)
“So many times you want to give up, but you can­not. That’s what ultra­run­ning is all about. That’s what life is all about.” (131)
“Ultras are more of a com­pe­ti­tion between me, myself, the course, and the dis­tance. Ultra­run­ning pits my mind against my body.” (167)
“I think ultra­run­ners must have a very poor mem­o­ry or no one would ever do anto­her race. You tend to for­get the pain and mis­ery and only remem­ber the thrill of accom­plish­ment.” (195) — das stimmt freilich: “Schmerz verge­ht, Stolz bleibt” heißt es in Deutsch­land.

Neal Jami­son (Hrsg.): Run­ning Through the Wall: Per­son­al Encoun­ters with the Ultra­ma­rathon. Hal­cottsville, NY: Break­away Books 2003. 288 Seit­en. ISBN 978–1‑89136937–7 (inzwis­chen schon in der 10. Auflage).

Projekt Minotaurus und andere Verrücktheiten

Die ersten 120 Seit­en dieses Büch­leins sind, ehrlich gesagt, ziem­lich­er Müll. Nicht nur orthographisch und gram­ma­tisch eine Katas­tro­phe, son­dern auch inhaltlich völ­lig unaus­ge­gorenes, undurch­dacht­es Gelaber.
Schlimm aufgestoßen sind mir vor allem die kru­den Vorstel­lun­gen des Autors zum Zusam­men­hang von Laufen und Gesellschaft — immer­hin legt er Wert darauf, als pro­moviert­er Poli­tik­wis­senschaftler anerkan­nt zu wer­den. Und dann schreibt er ständig von den bösen “Laufgu­rus”, die die arme Bevölkerung ver­führen. Und von einem “man”, dass alle Men­schen zum Laufen ani­mieren will (und, das ist beson­ders köstlich, dann extreme Pro­jek­te wie Pam­mingers Griechen­land-Läufe nicht mon­etär bezuschussen will — sehr selt­sames Gesellschaftsver­ständ­nis, das da durch­scheint …). Mit der Tat­sache, dass Laufen zum “Massen­sport” gewor­den ist, scheint er aber sowieso ein Prob­lem zu haben. Nicht nur hier betont er ja auch gerne, wie indi­vidu­ell er (im Gegen­satz zu den anderen Her­den­tieren) sei. Nun ja … Oder sein selt­sames Geschwurbel zum Ver­hält­nis von Laufen und Reli­gion — ein­er­seits legt er wieder­holt Wert auf seinen Sta­tus als gläu­bi­gen Athe­is­ten, ander­er­seits schreibt er immer wieder von der Ehrfurch vorm Schöpfer und solchem formel­haften Gesülze.
Und was schreibt er zum Laufen? Der erste Teil ist, wie gesagt, reich­lich krude. Evo­lu­tionär sei Laufen zum Beispiel als Fluchtre­flex bes­timmt — Biolo­gen (Hein­rich z.B.) sehen den Men­schen in sein­er Frühgeschichte eher als jagen­den denn fliehen­den Läufer.
Daneben nervte mich vor allem: Die ständi­ge Beto­nung und Her­vorhe­bung, wie beson­ders sein Pro­jekt doch sei. Das mag ja sein (und ist es auch), mich stört so etwas aber ein­fach trotz­dem immer sehr. Im zweit­en Teil wird es nicht wirk­lich bess­er. Die Lauf­berichte sind erstaunlich unde­tailiert und gle­ich­för­mig, aber auch aus­re­ichend prä­ten­tiös. Kurz gesagt: Das Laufen kommt mir ein­fach zu kurz. Anek­doten über die bösen, ver­schlagnen griechis­chen Portiers, die sein Team über die Ohren hauen wollen, sind für mich auch nicht wirk­lich span­nend. Also, alles in allem, ein für mich aus­ge­sprochen unlustiges Buch.

Har­ald Pam­minger, Alfred Ober­mayr: Oxi nein oder Wie ich zum ‘Kre­ta-Läufer’ wurde. Das etwas andere Lauf­buch. Wien: Books on Demand 2002. 327 Seit­en. ISBN 3–8311-432–1.

Optimiertes Laufen

Der Unter­ti­tel sagt alles: “Medi­zinis­che Tips zur biol­o­gis­chen Leis­tungsverbesserung”. Im Kern geht es hier also um alles, was beim Laufen beteiligt ist: Knochen, Bän­der, Muskeln, von den Zehen bis zur Wirbel­säule. Das alles wird — medi­zinisch — vorg­stellt und erläutert in Teil II: “Anatomie und Bio­mechanik des Laufens”. Teil III behan­delt dann “Fehler” in diesem Sys­tem unter der Über­schrift “Leis­tungslim­i­tierende biol­o­gis­che Gegeben­heit­en” — solche Dinge wie Fußfehlstel­lun­gen, verküzrte Muskeln etc. wer­den hier abge­han­delt. Teil IV ist dann noch inter­es­san­ter für den aktiv­en Läufer: “Häu­fig­ste Über­las­tung­sprob­leme mit Check­liste zur Selb­sterken­nt­nis”. Teil V schließlich behan­delt im let­zten Drit­tel die eigentliche Leis­tung­sop­ti­mierung — das reicht von den Lauf­schuhen über die Ther­moreg­u­la­tion (sehr aus­führlich) bis hin zur “Train­ingss­teuerung nach biol­o­gis­chm Para­me­ter”, die dann erstaunlich knapp aus­fällt. Über­haupt ist dieses Buch nicht nur stark auf so etwas wie “Selb­st­be­hand­lung” oder “Selb­ster­fahrung” des Kör­pers aus­gelegt, son­dern vor allem sehr knapp und über­sichtlich — eher zum Nach­schla­gen als zum Lesen. Und eher für den medi­zinisch-tech­nis­chen Teil des Laufens zu gebrauchen als für eine wirk­liche Train­ingss­teuerung — das bleibt sehr obe­fläch­lich und all­ge­mein. Für Besitzer der “Lore of Run­ning” kein unbe­d­ingt notwendi­ges Buch …

Božo Petracić, Franz Joachim Röttger­mann, Kurt-Chris­t­ian Traenck­n­er: Opti­miertes Laufen. Medi­zinis­che Tips zur biol­o­gis­chen Leis­tungsverbesserung. 3. Auflage. Aachen: Mey­er und Mey­er 2000. 139 Seit­en. ISBN 3–89124-390–1.

Leidenschaft Laufen

“Nichts ist so edel, tief und irra­tional wie unser Laufen — und nichts so wild und urtüm­lich.” (24)

So schreibt es Bernd Hein­rich, (Ultra-)Marathoni und Biologe. Er hat eines der besten Büch­er über seine bei­den Lei­den­schaften geschrieben: Die Natur­welt und das Laufen. So heißt es auch: “Laufen. Geschichte ein­er Lei­den­schaft”. Und der Unter­ti­tel trifft es sehr genau: Denn um Lei­den­schaften geht es hier. Nicht nur um das Laufen als Sport, als Fort­be­we­gungs­form oder als Wet­tkampf, son­dern auch um Biolo­gie und ihre Läufer, die Käfer zum Beispiel, oder auch andere Aus­dauer-Tiere wie die Zugvögel. Denn Hein­rich ist nicht nur Marathon- und Ultra­läufer erster Klasse (Anfang der 80er lief er US-Reko­rde über 100 Kilo­me­ter (in 6:38:21) und im 24-Stun­den-Lauf z.B., hat auch einige gute Marathon-Zeit­en deut­lich unter 2:30 erlaufen), son­dern auch Biologe — offen­bar genau­so mit Leib und Seele, wie er das Laufen ver­fol­gt …

Der biol­o­gisch gebildete und geschulte Hin­ter­grund diese Läufers macht sich also bemerk­bar. Und zwar auf sehr angenehme Weise. Schon die erste Schilderung eines Mor­gen­laufes ist phan­tastisch (wahrhaftig!) — nicht nur, was er alles sieht — das ist offen­bar Mon­tage viel­er, jahre­langer Läufe — son­dern auch die Genauigkeit nicht nur des Erkennes & Beobacht­ens, son­dern auch des Ken­nens und Benen­nens — da merkt man den Natur­wis­senschaftler sehr deut­lich … Aber das ist trotz­dem (oder ger­ade deswe­gen) so anschaulich beschrieben, dass man den Läufer und seine Umge­bung wirk­lich vor sich sieht. Und am lieb­sten sofort auf­brechen möchte, genau so zu laufen — aber draußen reg­net es ger­ade, also lieber noch etwas weit­er lesen.

Ich füh­le mich gut und spüre, wie mir frische Kräfte erwach­sen durch die Erwartung der Dinge, die hin­ter der näch­sten Biegung mein­er har­ren, durch die Erin­nerung an frühere Läufe und gele­gentlich auch durch die Vor­freude auf ein Wet­tren­nen in der Zukun­ft. (18)

Hein­rich verquickt hier sehr schön seine per­sön­liche Lauf­bi­ogra­phie bis zu ihrem Höhep­unkt, den US-Meis­ter­schaften im 100-Kilo­me­ter-Lauf in Chica­go 1981 mit biologischen/physiologischen Beobach­tun­gen und Erken­nt­nis­sen zum Aus­dauer­sport. Davon, von dem Wet­tkampf und seinen Vor­bere­itun­gen, aus­ge­hend blickt er zurück bis in seine frühe Kind­heit in Deutsch­land und Ameri­ka, seine frühe Begeis­terung für das Laufen draußen in der Natur und sogle­ich auch die Beobach­tung dieser Natur, seine ver­schiede­nen Ansätze, Laufen als Sport zu betreiben. Und dazwis­chen und mit­ten­drin ganz viel (für mich) Span­nen­des und Inter­es­santes aus der Tier­welt — über Zugvögel, Insek­ten, Hominiden, Gabel­böcke und Ziegen oder Gepar­den gle­icher­maßen. Immer unter dem Aspekt: Wie schaf­fen es diese Arten, ihre beson­deren Fähigkeit­en hin­sichtlich der Fort­be­we­gung so zu erbrin­gen, welche Voraus­set­zun­gen bilde­ten sie im Laufe der Evo­lu­tion für große Aus­dauer- oder kurze Hochgeschwindigkeit­sleis­tun­gen aus. Und Hein­rich, der bei Insek­ten auch auf diesem Gebi­et als Biologe geforscht hat, ver­sucht dann, dieses Wis­sen auf den men­schlichen Läufer zu über­tra­gen, zum Beispiel seine Energiev­er­sorgung vor und während des Ultra­laufes nach diesen Erken­nt­nis­sen zu gestal­ten (er benutzte dann bei seinem 100er auss­chließlich Preisel­beer­saft …). Und als Neben­pro­dukt fällt ein schön­er Ver­gle­ich der bei­den Muskelfaser­typen ab:

Ein anaer­ober FT-Muskel [Fast Twicht­ing] braucht keine Vork­er­hun­gen für eine rasche Ver­sorgung mit Sauer­stoff oder Brennstoff, für den Abtrans­port von Abfall­stof­fen und für Tem­per­atur­reg­ulierung. Er ist wie ein Ren­nau­to, das dafür gebaut ist, sehr schnell über die Strecke zu jagen, und daher ganz anders aussieht als ein Wohn­mo­bil, das man für eine Wüs­ten­durch­querung herg­erichtet hat. (89)

Hein­rich selb­st hat das Laufen wohl, so schildert er es, sein ganzes Leben mit Lust betrieben — als Kind in Deutsch­land genau­so wie im Inter­nat in Ameri­ka, wo er dann auch zum Cross-Läufer wird. Auch am Col­lege lan­det er bei den Läufern, trotz ver­schieden­er Ver­let­zun­gen. Und später wird er dann fast neben­bei zum Marathoni mit ein­er Zeit von 2:25.

Ab dem 15. Kapi­tel geht es dann auf die Ziel­ger­ade: Der 100er von Chica­go rückt jet­zt endgültig in den Fokus: Das Train­ing, die Vor­bere­itung, die Ernährung und der eigentliche Lauf als Schlusssprint wer­den ver­gle­ich­sweise knapp dargestellt. Sehr sym­pa­thisch aber auch die dezi­dierte Anti-Helden-Hal­tung Hein­richs, der seine Leis­tung nicht großar­tig her­ausstellt, son­dern auch die Ziele ander­er Läufer immer wieder betont. Ganz wesentlich ist aber auch: Laufen ist immer ein Freude, eine Lei­den­schaft, ein Genuss — auch wenn es mal wehtut, die Beloh­nung durch und im Erleben der Erfahrun­gen des Laufens und des Läufers wiegen den Schmerz mit Leichtigkeit wieder auf.

Ins­ge­samt also: Ganz klar eines der schön­sten Büch­er über das Laufen, das ich kenne. Wahrschein­lich, weil das eigentliche Laufen an sich (des Men­schen) gar nicht so sehr im Vorder­grund ste­ht. Son­dern eher die Begeis­terung für die laufende Fort­be­we­gung. Oder, noch all­ge­mein­er, die Begeis­terung über aus­dauernde Ent­fer­nungsüber­brück­un­gen, egal wie oder durch wen — so lange es mit eigen­er Kör­perkraft und ohne tech­nis­che Hil­f­s­mit­tel geschieht. Noch dazu ein kluges, sym­pa­this­ches, über­haupt nicht ange­berisches Buch. Absolute Leseempfehlung!

Bernd Hein­rich: Laufen. Geschichte ein­er Lei­den­schaft. München: List Taschen­buch 2005. 349 Seit­en. ISBN 978–3‑548–60564‑7.

Ein Hamburger in Omsk

Tom Ock­ers Buch “Eis-Lauf” ist hier schnell erledigt: Ein ver­rück­ter Ham­burg­er Nicht-Läufer läuft in Omsk/Sibirien einen Halb­marathon. Und er schreibt — natür­lich — darüber ein Buch. Das ist schnell gele­sen, schnell erzählt, schnell vergessen (wahrschien­lich auch schnell geschrieben — aber wohl nicht so schnell gelaufen).

Der “Eis-Lauf” ist das Buch eines beken­nen­den Laufhas­sers (wie das bei vie­len Fußballern so ist …), der auch keine Gele­gen­heit aus­lässt, das uns als seinen Lesern unter die Nase zu reiben. Und man merkt es auch sowieso, dass das Laufen ihn nicht inspiri­ert oder auch nur berührt.

Worum geht es Ock­ers? Er hat bei der Geburt seines Sohnes geschworen, einen “beson­deren” Marathon zu laufen. Das soll der Siber­ian Ice Marathon (SIM) 2001, am 6. Jan­u­ar, in Omsk wer­den. Das ist allerd­ings nur ein Halb­marathon (was ja bei dieser Kälte von ca. ‑40 °C auch ok ist), was Ock­ers aber nicht davon abhält, per­ma­nent vom “Marathon” zu schreiben — ziem­lich nervig, so eine Ver­arschung.

Es geht eigentlich nur um seine man­gel­hafte Vor­bere­itung, die Spon­soren­suche (und tat­säch­lich ‑akquise), die Reise nach Omsk — dafür braucht er mehr als 200 Seit­en, ohne viel zu erzählen. Dafür bemüht er sich sehr, witzig oder wenig­stens amüsant zu sein. Lei­der merkt man die Mühe dem Text noch recht deut­lich an …

Dann — endlich — der Lauf, der “Wet­tkampf”. Nach allen üblichen und vernün­fti­gen Kri­te­rien eher ein Desaster. Dass es natür­lich nie ein Marathon wurde, auch wen Ock­ers das behar­rlich so nen­nt, habe ich wohl schon erwäh­nt. Immer­hin schafft er stolze 21 Kilo­me­ter. Es ist halt sehr, sehr kalt da. Aber das war’s dann auch schon.

Übri­gens: Dean Kar­nazes und einige andere haben das lock­er getoppt — mit dem Lauf an den Süd­pol, der zwar gegen die ursprüngliche Pla­nung auch nur ein Halb­marathon wurde, aber nicht in/bei der Stadt mit ihrer Infra­struk­tur und einem geräumten Rund­kurs, son­dern eben mit­ten im “ewigen” Eis stat­tfand — was ja das Laufen auch etwas beschw­er­lich­er machte (nachzule­sen natür­lich bei Dean Kar­nazes, im “Ultra­ma­rathon-Mann”.)

Tom Ock­ers: Eis-Lauf. In der Kälte des Sibirien-Marathons. München: List-Taschen­buch 2002. 302 Seit­en. ISBN 3–548-68031–3.

“10 erfolgreiche Schritte”: Das Handbuch für Bergläufer

Das ist schon fast eine Antiq­ui­tät, dieses schon 1989 erschiene “Hand­buch für Bergläufer” von Her­bert Jost und Lud­wig Geiger. Aber so weit ich sehe, ist — zumin­d­est im deutschen Sprachraum — in den let­zten Jahren nichts ver­gle­ichs­bares erschienen.

Die bei­den Autoren ver­sucht­en vor über zwanzig Jahren, als Berglauf noch als “junge” Sportart galt, eine mehr oder weniger umfassende “Anleitung” im Sinne ein­er Hin­führung zum Berglauf zu geben. Das heißt, dass sie sich ganz stark und beson­ders der Tech­nik des Laufens in den Bergen wid­men. Also spielt das “richtige” Laufen, die richtige (d.h. effiziente und gesunde) Bewe­gung unter den beson­deren Bedin­gun­gen des Gebirges die Haup­trol­le in diesem Büch­lein. Behan­delt wird das mehr oder weniger steile Bergauf- und Bergab-Laufen, die richtige, angepasste Lauftech­nik auf wech­sel­nden Unter­grün­den, auch auf ungün­stig zu laufend­en Unter­la­gen (Schnee z.B. oder nass­es Gras — dazu heißt es erst ein­mal: “Nasse Wiesen abwärts zu laufen, ist etwa so wie auf Eis zu tanzen.” (42)).

Jost und Geiger stellen dabei knapp und präg­nant das Wesentliche (soweit ich sehe zumin­d­est) vor — der nicht sehr umfan­gre­iche Text wird durch ein schmales Lay­out gestreckt. Die illus­tri­eren­den Fotos wer­den den heuti­gen Ansprüchen nicht mehr ganz gerecht (nicht nur, weil sie schwarzweiß sind, son­dern vor allem aber, weil sie nicht sehr präzise gedruckt wur­den …). Pub­lika­tio­nen wie das Trail-Mag­a­zin oder Daniels Blog set­zen die Lat­te für solche Fotos inzwis­chen ziem­lich hoch. Dafür ist das Hand­buch aber mit hil­fre­ichen Zeich­nun­gen zur Lauftech­nik sehr instruk­tiv abgerun­det.

Der Teil zur Aus­rüs­tung, ins­beson­dere zu den Lauf­schuhen, ist natür­lich reich­lich ver­al­tet — da hat sich in den let­zten zwanzig Jahren (1989 erschien das Hand­buch) ja doch einiges getan, vor allem in der Entwick­lung des Mate­ri­als und spezial­isiert­er Schuhe. Hier gibt es noch Lauf­schuhe mit Schus­ternägeln — so welche hat­te ich in meinem kurzen Läufer­leben noch nie in den Hän­den, geschweige denn an den Füßen. Anderes gilt freilich noch immer: “Kaufen Sie einen Schuh, der so leicht ist wie möglich und so sta­bil wie nötig” (51) — eine wohl zeit­lose Lauf­schuh-Wahrheit. Aber immer­hin habe ich dabei neben bei noch gel­ernt, was ein “Bidon” ist — näm­lich eine Trink­flasche der Rad­fahrer …

Sehr aus­führlich behan­deln die bei­den neben der Lauftech­nik auch das Berglauf­train­ing: umfassend, aber naturgemäß auf diesem Raum und in diesem Zusam­men­hang sehr knapp geschildert. Auch der Wet­tkampf wird nicht vergessen, und, was ich sehr lobenswert finde, auch die spez­i­fis­chen Gefahren der Höhe, d.h. der inten­siv­en Leis­tung in Höhen­la­gen, und der alpinen Umge­bung wer­den aus­führlich beleuchtet. Dazu haben sie sog­ar eine schön unüber­sichtliche Grafik entwick­elt: komplikationen bei intensiver leistung in großer höhe

Ergänzt wird das noch um Aus­führun­gen zum Berglauf in Beziehung zu anderen Sportarten und sehr knap­pen sportmedi­zinis­che Betra­ch­tun­gen sowie einem Kapi­tel zum “men­tal­en” Train­ing. Sehr schön sind aber auch die Seit­en zum “Berglaufwan­dern” — das, was heute dann doch meist eher “Ultra­trail” genan­nt wird, im Prinzip aber das gle­iche ist: Laufen in den Bergen über lange Streck­en, auch mal mehrere Tage, wofür die Autoren ein schönes Beispiel geben, eine 60km-Strecke zwis­chen Vaduz und Rätikon.

Also, seinen Titel trägt das “Hand­buch für Bergläufer” duchaus zu recht. Noch ein­mal zur Über­sicht das Inhaltsverze­ich­nis der 10+1 Kapi­tel:

  1. Was ist Berglauf?
  2. Aller Anfang ist schw­er
  3. Die Tech­nik des Aufwärt­slaufens
  4. Die Tech­nik des Abwärt­slaufens
  5. Die Aus­rüs­tung
  6. Das Berglauf­train­ing
  7. Der Wet­tkampf
  8. Die Beson­der­heit­en der Höhe
  9. Berglauf und andere Sportarten
  10. Berglauf und men­tales Train­ing
  11. Sportmedi­zis­che Aspek­te zum Berglauf

Her­bert Jost, Lud­wig Geiger: Das Hand­buch für Bergläufer. Ober­haching: sport­in­form 1989. 223 Seit­en. ISBN 3–89284-036–9.

Dem Geheimnis des Laufens auf der Spur: Eine Psychologie des Laufens

Büch­er über das Laufen gibt es haufen­weise. Fast alle beschränken sich aber auf psy­chol­o­gis­ches und das ganze drumherumg wie Aus­rüs­tung, Train­ing, Wet­tkampf. Arbeit­en zu ein­er orig­inären Psy­cholo­gie des Laufens, die über die Beschrei­bung oder Samm­lung von schö­nen Geschicht­en zum runner’s high hin­aus­ge­hen, sind dabei eher sel­ten zu find­en. Immer wieder taucht aber ein Titel auf: Andreas M. Marlovits Buch “Lauf-Psy­cholo­gie. Dem Geheim­nis des Laufens auf der Spur”. In Bib­lio­theken aber trotz­dem sehr sel­ten zu find­en — dank Book­look­er kam ich aber den­noch recht gün­stig an ein Exem­plar, das extra den weit­en Weg aus der Schweiz zu mir machte.

Worum geht es Marlovits? Eben nicht nur um die ange­bliche (er zweifelt da offen­bar, ohne das aber weit­er zu ver­fol­gen, weil es nicht sein eigentlich­es The­ma ist) Auss­chüt­tung von kör­pereigen­em Endor­phin als “Glück­shormon” beim Laufen, son­dern um eine orig­inär psy­chol­o­gis­che Betra­ch­tung des Laufens als reich­lich monot­o­nem Sport mit aus­ge­sprochen gleichmä0igem, lange Zeit gle­ich­bleiben­den Bewe­gungsablauf. Und die psy­chol­o­gis­chen Fol­gen des fort­ge­set­zten Dauer­laufes. Denn er geht davon aus: “Wenn das Laufen nicht psy­chisch wirk­sam wer­den würde, dann wäre es längst nicht so pop­ulär.” (16) Für seine Unter­suchung dieser Wirk­samkeit bedi­ent er sich zunächst der Lit­er­atu­rum­schau, vor allem Tiefen-Inter­views mit 100 Läufern.

Weit aus­holend fängt er an, beleuchtet — inge­samt aber eher knapp und in der Über­sicht — das Laufen in ver­schiede­nen Kul­turen, die kul­tische und kul­turelle Bedeu­tung des Laufens ind er Geschichte und begin­nt dazu selb­stver­ständlich in der Antike, d.h. in Griechen­land — inkl. Philip­pi­des, dem “Marathon”-Läufer — und macht dann einen großen Sprung in die Mod­erne, um sich vor allem der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts in mehreren Dekaden näher zu wid­men. Wirk­lich viel kommt dabei aber nicht herum, denn:

Die Ergeb­nisse aus mehr als 40 Jahren Lauf­forschung machen deut­lich, wie frag­men­tarisch sich die Erken­nt­nis­lage zum Laufen und sein­er wohltuen­den Wirkung bis­lang darstellt. Wed­er die immer wieder aufgewärmte These von der Suche nach dem Endor­phin-Kick noch Über­legun­gen, dass dem Läufer eine bes­timmte Per­sön­lichkeitsstruk­tur zuzuschreiben sei (Intro­vertiertheit), noch Über­legun­gen, dass das Laufen anti­de­pres­siv oder Stress reduzierend wirkt, ließen sich bis heute ein­deutig wis­senschaftlich bestäti­gen. (56)

Dann geht es näher zum Kern, um das Laufen. Das heißt, zunächst um den Anfang, den Beginn des Laufens, der Auf­nahme des Dauer­laufens in den Lebensvol­lzug des mod­er­nen Men­schen, der sich deut­lich von dem früher­er Epochen unter­schei­det, weil er anderen Notwendigkeit­en unter­liegt: “Es geht also um mehr oder weniger wichtige Dinge des per­sön­lichen Lebens. […] Es scheint, als hätte sich das Laufen der heuti­gen Zeit sein­er exis­ten­tiell-kul­turellen Fuk­tion­al­ität entledigt. Vorherrschend ist die Not des Indi­vidu­ums, die ihn zum Laufen bewegt.” (30) Und genauer: “Vom Laufen […]erwartet man eine per­sön­lich [sic!] Bere­icherung im Sinne ein­er heil­samen Wirkung, die sich spür­bar, am besten psy­chol­o­gisch spür­bar, man­i­festieren sollte.” (32) Deshalb kommt Marlovits zu dem Schluss: “Die Dop­pel­wirkung von Entspan­nung und Aktivierung ist dem mod­er­nen Men­schen Lauf­mo­tiv genug.” (32)

Die Gründe des Laufens kön­nen für ihn dabei immer auf zwei (ganz all­ge­meine) Motive bzw. deren Wahrnehmung und Prob­lema­tisierung zurück­ge­führt wer­den, auf Stag­na­tion oder Hyper­mo­bil­ität: “Wir behaupten also, dass sämtliche Beweg­gründe zum Laufen auf dieser Grundspan­nung verortet wer­den kön­nen.” (40) Aus­ge­hend von dieser Diag­nose, dass das Laufen also als ein Art Gegen­mit­tel für diese zwei defiz­itären Zustände des mod­er­nen Men­schen ange­gan­gen wird, kann er fest­stellen:

Das Laufen erscheint also als eine Art heilen­des Lösungsmit­tel für seel­siche Prob­lemzustände, die zum einen aus Ver­läufen des per­sön­lichen Lebens, zum anderen aber auch aus jenen der gesamtkul­turellen Entwick­lung resul­tieren kön­nen. (42)

Darauf beste­ht er immer wieder: Dass das Laufen nicht nur ein indi­vidu­elles Phänomen sei, son­dern auch Teil ein­er Kul­tur (aber ger­ade die zweite Seite bleibt im weit­eren dann doch sehr blass …). Wesentlich ist auf jeden Fall der Zusam­men­hang zwis­chen Leben und Laufen, den Marlovits immer wieder beobachtet: Laufen als so etwas wie eine Bewäl­ti­gungs- oder Ver­ar­beitungsstrate­gi­er für das “Leben” (was ja nur teil­weise logisch ist, denn Laufen ist ja auch wieder Teil des Lebens — aber das soll hier nicht weit­er stören): “Die Ten­denz, das Laufen in einen engen Zusam­men­hang zum eige­nen Lebens-Lauf zu brin­gen, ist bere­its ein erster Begrün­dungszusam­men­hang dazu, warum wir davon aus­ge­hen, dass in der uns so selb­stver­ständlichen Bewe­gung des Laufens eine gehörige Por­tion Psy­cholo­gie steckt.” (68) Und zwar in diesem Sinne:

Laufen formt das See­len­leben in ein­er ganz spez­i­fis­chen, sein­er Wirkung entsprechen­den Form um. Diese Umfor­mung geschieht bei allen Men­schen in die gle­iche Rich­tung. […] Jed­er Lauf ist der Ver­such, so wie möglich eine seel­is­che Umfor­mung voranzutreiben, denn je weit­er sie vor­angeschrit­ten ist, umso inten­siv­er wird die wohltuende Wirkung des Laufens für den Einzel­nen spür­bar. (71)

Und dann gehts ans Eigentliche: Welchen Effekt hat aus­dauern­des Laufen auf die Psy­che des Läufers denn nun genau? Welch­er Art ist denn nun diese “Umfor­mung”? (Die umgekehrte Wirkrich­tung, näm­lich den Ein­fluss der Psy­che auf das Laufen, der eine “Lauf-Psy­cholo­gie” erst kom­plett machen würde, betra­chtet Marlovits lei­der über­haupt nicht. Dabei hätte ger­ade das mich beson­ders inter­essiert. Genau­so fehlt eigentlich vol­lkom­men eine Betra­ch­tung des Laufens als Sport in psy­chlo­gis­che Hin­sicht.)

Worin liegt also Wirkung, die “psy­chis­che Mod­u­la­tion des Aus­gangszu­s­tandes” (75)?: Da ist zunächst etwa die “niv­el­lierende Kraft” des Laufens: “Damit ist gemeint, dass sich während des Laufens eine seel­is­che Ten­denz bre­it zu machen begin­nt, die sämtliche erlebten Unter­schiede und Dif­feren­zen vom Läufer zur Welt hin auszu­gle­ichen begin­nt.” (82) — “Der Rhyth­mus […] ist die zen­trale Meth­ode, mit der die Dif­ferenz und Gegenübergestelltheit von Ich und Welt ange­gan­gen wird.” (97)

Das wesentliche psy­chol­o­gis­che (d.h. ther­a­pieren­des) Moment des Laufens ist für Marlovits aber ein anderes: Seine Ähn­lichkeit mit dem (Tag-)Träumen und der dort geschehen­den Ver-/Bear­beitung des Unerledigten des Lebens: “Der Herrschaft der Traum­mech­a­nis­men im Lauf ist es auch zu ver­danken, dass sich plöt­zlich uner­wartete Löun­gen für Prob­leme des All­t­ags ein­stellen.” (107) Oder, wie es etwas später heißt: “das Laufen schafft Bedin­gun­gen in der GEsam­tor­gan­i­sa­tion ‘Men­sch’, in der drück­ende The­men und Prob­leme ein­er kör­per­liche-psy­chis­chen Bear­beitung über­lassen wer­den.” (129). Und die Pas­siv­ität, das Über­lassen oder Über­ant­worten der “Prob­leme” an das “Es”, ist für in dieser Hin­sicht erfol­gre­ich­es Laufen die entschei­dende Grundbe­din­gung.

Aus dieser Per­spek­tive ist der “innere Schweine­hund” des Läufers dann kein Energies­par­trick oder Faul­heit­san­fall des geschun­de­nen Kör­pers mehr, son­dern etwas anderes:

Der Läufer scheut sich, die kul­tivierte All­t­agsver­fas­sung des Ver­fü­gen-Kön­nens zugun­sten der trau­manalo­gen Form der Laufver­fas­sung einzu­tauschen. Was man also zu ver­mei­den sucht, ist weniger die Müh­sal des Laufens selb­st, als der de-kul­tivierende Aufwand der See­len­mod­u­la­tion durch das Laufen. (110)

Diese Stelle ist in gewiss­er Weise typ­isch für Marlovits: Deut­lich wird hier nicht nur seine Meth­ode, son­dern vor allem deren Ein­seit­igkeit. Denn, davon bin ich überzeugt, sowohl die rein kör­per­liche als auch die rein psy­chis­che Erk­lärung des inneren Schweine­hun­des ste­hen nicht allein, son­dern wirken zusam­men. Ger­ade diese Mis­chung von phys­i­ol­o­gis­chen und psy­chol­o­gis­chen Aspek­ten des Laufens ignori­ert Marlovits aber, ja, er verneint sie sog­ar.

Es bleiben mir also nach der Lek­türe diese Büch­leins einige Fra­gen. Doch das, was Marlovits aus­gear­beit­et hat, scheint mir dur­chaus zutr­e­f­fend zu sein. Nur vielle­icht nicht so solitär und abso­lut, wie er es hier darstellt. Method­isch ist die “Lauf-Psy­cholo­gie” für mich als Psy­cholo­gie-Laien nur halb überzeu­gend — die Lit­er­atur­recherche scheint mir eher ober­fläch­lich, ihre Dar­legung unge­nau, das Lit­er­aturverze­ich­nis ist fehler­haft. Vor allem aber frage ich mich, wofür Marlovits 100 Inter­views geführt hat — aus­gew­ertet wird für das Buch prak­tisch nur ein einziges. Die anderen geben ihm nur irgend­wie eine Art Hin­ter­grund­in­for­ma­tion — da hätte ich mir doch gerne mehr Details und inten­si­vere Beschäf­ti­gung bzw. Dar­legung der anderen Inter­views und ihrer Aus­sagen gewün­scht. Aber immer­hin, es ist ein dur­chaus inter­es­san­ter Vorstoß in eine Lücke der Lau­flit­er­atur.

Andreas M. Marlovits: Lauf-Psy­cholo­gie. Dem Geheim­nis des Laufens auf der Spur. Mit 29 Zeich­nun­gen von Rolf Jahn. 3. Auflage. Regens­burg: LAS 2006. 192 Seit­en. ISBN 978–3‑89787–167‑0.

Das Hoch des Läufers. Oder Ein Hoch auf das Laufen

Die Lust zu laufen ist das große und einzige The­ma dieses Büch­leins. Andreas Butz, der wie so viele als Freizeitläufer zur Steigerung der all­ge­meinen Fit­ness ange­fan­gen hat, irgend­wann der erste Marathon (inklu­sive Scheit­ern am eige­nen Ziel), und das dann auch weit­er getrieben bis zum Iron­man (Ultras eher nicht), ist inzwis­chen ein­er der rühri­gen Ver­mark­ter des Laufens und Betreiber des Lauf­cam­pus.
“Run­ners Hight” ist eine Ode an das Laufen — ins­beson­dere die schö­nen Seit­en (und das muss nicht immer der im Titel zitierte “runner’s high” sein), die Mor­gen­läufe, das Erleben der Natur etc. pp.
Nett, unter­halt­sam und tre­f­fend plaud­ert Butz in knap­pen Kapi­tel beziehungsweise ein­er Rei­he von kleine Erzäh­lun­gen mit spür­bar­er Begeis­terung von sein­er Lei­den­schaft. Es geht aber auch mal ein biss­chen ums Laufen selb­st — die Bekehrung Butz zum Strunz-Anhänger und Vor­fußläufer etwa, natür­lich auch der erste “richtige” Lauf­schuhkauf sind eben­so The­men wie die Vere­in­barkeit des Laufens mit Beruf und vor allem Fam­i­lie — irgend­wo muss die Zeit, die der Läufer mit der Erfahrung des Hochge­fühls ver­bringt, ja herkom­men … Ins­ge­samt deckt Butz so ziem­lich alle üblichen The­men ab: Lauf­schuhe, Laufk­lei­dung, Lauf­streck­en, Tem­po im Train­ing, Ernährung, Lauftech­nik, Lauftr­e­ffs, der innere Schweine­hund, die kleinen und größeren Wet­tkämpfe auch, aber nicht so wichtig.
Ein Büch­lein, das sehr schön die Fasz­i­na­tion des “nor­malen” Laufens ver­mit­telt — also nicht so sehr “beson­dere” Momente wie irgend einen Berglauf, Ultra, Etap­pen­lauf oder ähn­lich­es (wie es in Bon­ings “Beken­nt­nis­sen eines Nacht­sportlers” zum Beispiel ganz stark ist), son­dern das Glück des alltäglichen Laufens vor der Haustür, die Befriedi­gung, die der Läufer daraus zieht, den Luxus genießen zu kön­nen, ein­fach mal eine oder zwei Stun­den laufen gehen zu dür­fen und zu kön­nen.

Andreas Butz: run­ners high. Die Lust zu laufen. München: Copress 2002. 191 Seit­en. ISBN 3–7679-0820–4

Wigald Boning läuf nachts — und bekennt sich dazu

Und er tut das, das Beken­nen natür­lich, in einem net­ten Buch: “Beken­nt­nisse eines Nacht­sportlers”.
Das ist run­dum unter­halt­sam und amüsant, aber eher schmun­zel­nd als — wie der Klap­pen­text ver­heißt — im Sinne eines “Lach­muskel­train­ing”. Sooooo lustig finde ich seine auto­bi­ographis­che Schilderung seines sportlichen Lebens, der Ver­suche, das mit Beruf und Fam­i­lie in Ein­klang zu brin­gen, auch wieder nicht. Aber es ist ein sehr lock­er­er Text. Und auch das Laufen geschieht eher neben­bei , der Marathon geschieht in ein paar Zeilen, der erste Ultra hat immer­hin einige Seit­en, in denen es aber nicht so sehr ums Laufen als um das Drumherum geht. Und um ganz viel Leichtsinn. Zumin­d­est so wie Bon­ing es erzählt, ist er extrem unvor­sichtig und draufgän­gerisch, riskiert Leib und Leben (übri­gens nicht nur seines) — es sei mal dahingestellt, ob das der Real­ität entspricht oder ob er nur gerne drama­tisiert. Aber ver­führererisch und eben leichtsin­nig ist es doch — “Und zurück kammt man immer, irgend­wie.” ist offen­bar sien Haupt­mot­to gewor­den — und das ist schon gren­zw­er­tig, finde ich …

Mein Faz­it daher: Das ist eher ein Lauf­buch für Nichtläufer — oder ein Sport­buch für Bon­ing-Fans. Und eine ganz angenehm-nette Bet­tlek­türe — ohne großen Anspruch und beson­deren Erken­nt­niswert.

Wigald Bon­ing: Beken­nt­nisse eines Nacht­sportlers. Rein­bek: Rowohlt 2007. 299 Seit­en. ISBN 9783–499-62192–5

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