“Nichts ist so edel, tief und irrational wie unser Laufen — und nichts so wild und urtümlich.” (24)
So schreibt es Bernd Heinrich, (Ultra-)Marathoni und Biologe. Er hat eines der besten Bücher über seine beiden Leidenschaften geschrieben: Die Naturwelt und das Laufen. So heißt es auch: “Laufen. Geschichte einer Leidenschaft”. Und der Untertitel trifft es sehr genau: Denn um Leidenschaften geht es hier. Nicht nur um das Laufen als Sport, als Fortbewegungsform oder als Wettkampf, sondern auch um Biologie und ihre Läufer, die Käfer zum Beispiel, oder auch andere Ausdauer-Tiere wie die Zugvögel. Denn Heinrich ist nicht nur Marathon- und Ultraläufer erster Klasse (Anfang der 80er lief er US-Rekorde über 100 Kilometer (in 6:38:21) und im 24-Stunden-Lauf z.B., hat auch einige gute Marathon-Zeiten deutlich unter 2:30 erlaufen), sondern auch Biologe — offenbar genauso mit Leib und Seele, wie er das Laufen verfolgt …
Der biologisch gebildete und geschulte Hintergrund diese Läufers macht sich also bemerkbar. Und zwar auf sehr angenehme Weise. Schon die erste Schilderung eines Morgenlaufes ist phantastisch (wahrhaftig!) — nicht nur, was er alles sieht — das ist offenbar Montage vieler, jahrelanger Läufe — sondern auch die Genauigkeit nicht nur des Erkennes & Beobachtens, sondern auch des Kennens und Benennens — da merkt man den Naturwissenschaftler sehr deutlich … Aber das ist trotzdem (oder gerade deswegen) so anschaulich beschrieben, dass man den Läufer und seine Umgebung wirklich vor sich sieht. Und am liebsten sofort aufbrechen möchte, genau so zu laufen — aber draußen regnet es gerade, also lieber noch etwas weiter lesen.
Ich fühle mich gut und spüre, wie mir frische Kräfte erwachsen durch die Erwartung der Dinge, die hinter der nächsten Biegung meiner harren, durch die Erinnerung an frühere Läufe und gelegentlich auch durch die Vorfreude auf ein Wettrennen in der Zukunft. (18)
Heinrich verquickt hier sehr schön seine persönliche Laufbiographie bis zu ihrem Höhepunkt, den US-Meisterschaften im 100-Kilometer-Lauf in Chicago 1981 mit biologischen/physiologischen Beobachtungen und Erkenntnissen zum Ausdauersport. Davon, von dem Wettkampf und seinen Vorbereitungen, ausgehend blickt er zurück bis in seine frühe Kindheit in Deutschland und Amerika, seine frühe Begeisterung für das Laufen draußen in der Natur und sogleich auch die Beobachtung dieser Natur, seine verschiedenen Ansätze, Laufen als Sport zu betreiben. Und dazwischen und mittendrin ganz viel (für mich) Spannendes und Interessantes aus der Tierwelt — über Zugvögel, Insekten, Hominiden, Gabelböcke und Ziegen oder Geparden gleichermaßen. Immer unter dem Aspekt: Wie schaffen es diese Arten, ihre besonderen Fähigkeiten hinsichtlich der Fortbewegung so zu erbringen, welche Voraussetzungen bildeten sie im Laufe der Evolution für große Ausdauer- oder kurze Hochgeschwindigkeitsleistungen aus. Und Heinrich, der bei Insekten auch auf diesem Gebiet als Biologe geforscht hat, versucht dann, dieses Wissen auf den menschlichen Läufer zu übertragen, zum Beispiel seine Energieversorgung vor und während des Ultralaufes nach diesen Erkenntnissen zu gestalten (er benutzte dann bei seinem 100er ausschließlich Preiselbeersaft …). Und als Nebenprodukt fällt ein schöner Vergleich der beiden Muskelfasertypen ab:
Ein anaerober FT-Muskel [Fast Twichting] braucht keine Vorkerhungen für eine rasche Versorgung mit Sauerstoff oder Brennstoff, für den Abtransport von Abfallstoffen und für Temperaturregulierung. Er ist wie ein Rennauto, das dafür gebaut ist, sehr schnell über die Strecke zu jagen, und daher ganz anders aussieht als ein Wohnmobil, das man für eine Wüstendurchquerung hergerichtet hat. (89)
Heinrich selbst hat das Laufen wohl, so schildert er es, sein ganzes Leben mit Lust betrieben — als Kind in Deutschland genauso wie im Internat in Amerika, wo er dann auch zum Cross-Läufer wird. Auch am College landet er bei den Läufern, trotz verschiedener Verletzungen. Und später wird er dann fast nebenbei zum Marathoni mit einer Zeit von 2:25.
Ab dem 15. Kapitel geht es dann auf die Zielgerade: Der 100er von Chicago rückt jetzt endgültig in den Fokus: Das Training, die Vorbereitung, die Ernährung und der eigentliche Lauf als Schlusssprint werden vergleichsweise knapp dargestellt. Sehr sympathisch aber auch die dezidierte Anti-Helden-Haltung Heinrichs, der seine Leistung nicht großartig herausstellt, sondern auch die Ziele anderer Läufer immer wieder betont. Ganz wesentlich ist aber auch: Laufen ist immer ein Freude, eine Leidenschaft, ein Genuss — auch wenn es mal wehtut, die Belohnung durch und im Erleben der Erfahrungen des Laufens und des Läufers wiegen den Schmerz mit Leichtigkeit wieder auf.
Insgesamt also: Ganz klar eines der schönsten Bücher über das Laufen, das ich kenne. Wahrscheinlich, weil das eigentliche Laufen an sich (des Menschen) gar nicht so sehr im Vordergrund steht. Sondern eher die Begeisterung für die laufende Fortbewegung. Oder, noch allgemeiner, die Begeisterung über ausdauernde Entfernungsüberbrückungen, egal wie oder durch wen — so lange es mit eigener Körperkraft und ohne technische Hilfsmittel geschieht. Noch dazu ein kluges, sympathisches, überhaupt nicht angeberisches Buch. Absolute Leseempfehlung!
Bernd Heinrich: Laufen. Geschichte einer Leidenschaft. München: List Taschenbuch 2005. 349 Seiten. ISBN 978–3‑548–60564‑7.