Übers Laufen und was sonst so draußen passiert.

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Ost-afrikanische Läufer

Der Sport­wis­sen­schafl­ter Ross Tucker über die Erfol­ge ost­afri­ka­ni­scher Läu­fer und ihre Grün­de – und über das grund­le­gen­de Pro­blem des Ver­trau­ens in die Leis­tung von Sport­lern, wenn (auch) gedopt wird.

I think THERE IS a phy­sio­lo­gi­cal basis for the con­cen­tra­ti­on of east African/​Kenyan/​Kalenjin/​Nandi run­ners. I belie­ve that THERE ARE legi­ti­ma­te bio­me­cha­ni­cal advan­ta­ges that are more likely to be found in the­se popu­la­ti­ons than else­whe­re, and which explain their over-repre­sen­ta­ti­on. In turn, I belie­ve that the­re are prin­ci­ples and con­cepts that stu­dy­ing east Afri­can run­ners can teach the world about being bet­ter run­ners.
But there’s a con­foun­der that you sim­ply can­not igno­re unless you’re in total deni­al – doping.

Ross Tucker, sport​sci​en​tists​.com

Er emp­fiehlt vor allem Mus­ter­er­ken­nung zur Ein­schät­zung von sport­li­chen Leis­tun­gen ein­zu­set­zen (und betont, dass das natür­lich kein Nach­weis von Doping ist). Sol­che Mus­ter könn­ten z.B. sein:

Anyo­ne who runs a time in the top 50 in histo­ry, or who comes top 5 in a big city mara­thon, is auto­ma­ti­cal­ly high risk

Any major impro­ve­ment in per­for­mance, with a huge increase in sus­pi­ci­on if that impro­ve­ment hap­pens more than about three years into the athlete’s care­er, must be view­ed as high­ly sus­pi­cious.

Erra­tic per­for­mance.

Ross Tucker, sport​sci​en​tists​.com

und, natür­lich nicht zu ver­ges­sen, das sons­ti­ge Ver­hal­ten der Ath­le­ten.
Das gibt eine inter­es­san­te, beden­kens­wer­te Lek­tü­re.

Tucker, R. (2019, April 25). We need to talk about East Afri­can run­ners and gene­ral trust vs skep­ti­cism in per­for­man­ces. Retrie­ved May 9, 2019, from https://​sports​sci​en​tists​.com/​2​0​1​9​/​0​4​/​w​e​-​n​e​e​d​-​t​o​-​t​a​l​k​-​a​b​o​u​t​-​e​a​s​t​-​a​f​r​i​c​a​n​-​r​u​n​n​e​r​s​-​a​n​d​-​g​e​n​e​r​a​l​-​t​r​u​s​t​-​v​s​-​s​k​e​p​t​i​c​i​s​m​-​i​n​-​p​e​r​f​o​r​m​a​nces/

Marathon und Alter

Die New York Times schreibt einen net­ten klei­nen Arti­kel über die Fra­ge, wie und war­um die Mara­thon­zei­ten für älte­re Läu­fer gera­de so viel schnel­ler wer­den. Das Ergeb­nis ist nicht son­der­lich über­ra­schend:

Peo­p­le of all ages and abili­ties are get­ting smar­ter about how they train, and that is allo­wing them to remain fast as they age.

. Aber How to Run a Mara­thon Fas­ter as You Get Older ist trotz­dem eine net­te Lek­tü­re.

Der ultimative Ratgeber fürs Trailrunning ist nicht ultimativ

chase & hobbs, trail running (cover)Mat­thi­as | Täg­lich lau­fen

Auf gut 250 Sei­ten ver­spre­chen Adam W. Cha­se und Nan­cy Hobbs, alles zu ver­mit­teln und zu erklä­ren, was man über Aus­rüs­tung, das Fin­den von Trails, Ernäh­rung, Hügel­stra­te­gie, Wett­kampf, das Ver­mei­den von Ver­let­zun­gen, Trai­ning, Wet­ter und Sicher­heit (in die­ser Rei­hen­fol­ge ist es der aus­ufern­de Unter­ti­tel) wis­sen muss. Das gan­ze nennt sich dann beschei­den The Ulti­ma­te Gui­de to Trail Run­ning.

Ich glau­be nicht, dass es der ulti­ma­ti­ve Rat­ge­ber ist. Sicher, die behan­del­ten The­men erschöp­fen das Gebiet Trail­run­ning ziem­lich voll­stän­dig. Aber: Zum einen sind die Rat­schlä­ge fast immer sehr all­ge­mein, oft sogar abs­trakt gehal­ten. Ich weiß nach der Lek­tü­re also immer noch nicht alles … Zum ande­ren ist vie­les sehr USA-spe­zi­fisch. Etwa, wenn es um die Gefähr­dun­gen auf dem Trail geht: Da gibt es Bären, Moun­tain Lions, Schlan­gen und Poi­son Ivy – also lau­ter nord­ame­ri­ka­ni­sche Spe­zia­li­tä­ten. Zum Aus­gleich wid­men die Autorin­nen gan­ze 30 Sei­ten dem Aus­rich­ten von Trail­wett­kämp­fen (das hät­te ich nicht unbe­dingt wis­sen müs­sen – aller­dings, wenn ich ehr­lich bin: das meis­te wuss­te ich auch hier schon …)

Denn: gesun­der Men­schen­ver­stand und Acht­sam­keit für sich selbst, die Umge­bung und das Gesche­hen wür­den schon vie­le der Rat­schlä­ge aus­rei­chend beschrei­ben oder erset­zen. Zumal sie vie­les selbst immer wie­der ein­schrän­ken: „depen­ding on your form“ heißt das ger­ne, wahl­wei­se gel­ten die Tipps auch abhän­gig von der ver­blei­ben­den Kraft und Aus­dau­er, der Müdig­keit, dem Ter­rain oder ähn­li­chem. Das ist eben die Crux, wenn man den ulti­ma­ti­ven Füh­rer schrei­ben will: Damit es über­all und für alle passt, blei­ben nur noch Gemein­plät­ze übrig:

Fal­ling is an unfort­u­na­te ine­vi­ta­bi­li­ty of downhill trail run­ning. (37)

Ein paar Din­ge sind aber auch gut: Die Trail-Defi­ni­ton zum Bei­spiel und die Klas­si­fi­zie­rung von Trail, Fell, Moun­tain, Sky etc.:

The majo­ri­ty of the trails refe­ren­ced in this book will have at least three of the four fol­lo­wing cha­rac­te­ris­tis. They will: (1) be unpa­ved; (2) have natu­ral obs­ta­cles that may include but are not limi­t­ed to rocks, tree stumps, tree roots, dirt, gra­vel, mud, morai­ne, lea­ves, ice, snow, and creek crossings; (3) have a signi­fi­cant gain or loss of ele­va­ti­on; (4) include scenic vis­tas. (5)

Die Tipps zum rich­ti­gen, effek­ti­ven Lau­fen von Stei­gun­gen hoch und run­ter sind auch recht gut. Und es gibt eine Men­ge (und das heißt wirk­lich: eine irre Men­ge) Anek­do­ten und Zita­te von ame­ri­ka­ni­schen Trailläu­fern und ‑läu­fe­rin­nen. Und – das ist in sol­chen Büchern eher sel­ten – sie ver­su­chen immer­hin eine kur­ze Geschich­te des Trail Run­ning (als Sport, nicht als Fort­be­we­gung bei der Jagd oder ähn­li­chem) und gehen dafür bis in mit­tel­al­ter­li­che Eng­land zurück.

Und im Prin­zip stimmt auch alles, was hier steht. Zumin­dest konn­te ich kei­ne gro­ben Schnit­zer ent­de­cken. Wie hilf­reich das Buch ist, bleibt aber eine ande­re Fra­ge. Für Trail-Anfän­ger ist es ja eigent­lich unnö­tig, fin­de ich. Zum Trailläu­fer wird man doch immer noch am ehes­ten und bes­ten, indem man ein­fach raus­geht und drau­ßen läuft. Auf die meis­ten der hier ver­sam­mel­ten Rat­schlä­ge kommt man den sehr schnell von ganz allein, auch ohne dass man gro­ße Feh­ler bege­hen muss. Mein Fazit ist ganz klar: Auch ohne den Ulti­ma­te Gui­de hat man gute Chan­cen, ein Trailläu­fer zu wer­den.

The best way to deal with mud on the trail is to enjoy it and get as dir­ty as pos­si­ble ear­ly in the run so you won’t worry about it the­re­af­ter. (39)

Adam W. Cha­se, Nan­cy Hobbs: The Ulti­ma­te Gui­de to Trail Run­ning. Ever­y­thing You Need to Know About Equip­ment, Fin­ding Trails, Nut­ri­ti­on, Hill Stra­tegy, Racing, Avo­i­ding Inju­ry, Trai­ning, Wea­ther, Safe­ty. 2. Auf­la­ge. Guil­ford, Hele­na: Fal­con Gui­des 2010. 254 Sei­ten. ISBN 9780762755370.

Wissen, wo es langgeht: Der Ultralauf-Kompass von Norbert Madry

madry, ultralauf-kompass (cover)

150 Fra­gen beant­wor­tet Nor­bert Madry, der selbst Ultra­l­äu­fer mit lan­ger Erfah­rung und auch Trai­ner ist, auf den gut 170 Sei­ten sei­nes gera­de erschie­nen Ultra­l­auf-Kom­pass. Eigent­lich sind es sogar 300 Ant­wor­ten: Es gibt näm­lich immer eine kur­ze, sehr poin­tier­te Ant­wort, die meist nur aus einem knap­pen Satz besteht, und eine aus­führ­li­che, erklä­ren­de, die sich auch mal – aber nur sel­ten – über meh­re­re Sei­ten zie­hen kann. Manch­mal ist der Ton etwas arg schnodd­rig für mei­nen Geschmack, aber das ist natür­lich eine sub­jek­ti­ve Ein­schät­zung.

Macht Ultra­l­au­fen doof?
Ja, aber glück­li­cher­wei­se nur vor­über­ge­hend. (24)

Eine Men­ge Stoff also. Und Madry packt in den Fra­gen­ka­ta­log auch so ziem­lich alles, was wich­tig ist – und wenn er etwas nicht behan­delt, wie zum Bei­spiel die Aus­rüs­tung und Ernäh­rung, dann weist er zumin­dest dar­auf hin und begrün­det das mit dem feh­len­den „Ultra­spe­zi­fi­kum“: Wenn das, was fürs Mara­thon­lau­fen gilt, auch beim Ultra­l­auf Anwen­dung fin­det, mag er es nicht auch noch mal behan­deln. Ein sehr sym­pa­thi­scher Ansatz. Denn ein Buch, dass sich an Ultra­l­äu­fe­rin­nen (oder zumin­dest Ultra-Inter­es­sier­te) wen­det, wird in der Regel nicht auf Lauf­no­vi­zen tref­fen – ein gewis­ses Grund­wis­sen dürf­te also vor­han­den sein und das setzt Madry auch vor­aus.

Das Fra­ge-Ant­wort-For­mat passt ganz gut, weil er recht boden­stän­dig vor allem auf (sei­ne) Erfah­rungs­wer­te setzt, ohne gro­ße Theo­rien: Nach dem Mot­to „Aus der Pra­xis, für die Pra­xis“ ist der Ultra­l­auf-Kom­pass tat­säch­lich so etwas wie „ein klei­ner, sehr sub­jek­tiv gefärb­ter Lauf­kum­pel in Buch­form“ (8). Gut gefal­len hat mir auch, dass er immer wie­der ein­räumt: Hier prä­sen­tie­re ich mei­nen eige­nen Blick auf die Mate­rie, man­che Ant­wor­ten könn­te man auch anders geben und nicht alle sind unbe­dingt für alle gül­tig. Er ver­fährt also nicht dik­tie­rend (so muss man es machen), son­dern weist dar­auf hin: So kann man es machen, so hat es sich zumin­dest bewährt …

Auch wenn er im Vor­wort das Buch aus­drück­lich nicht nur für Ultras, son­dern auch für inter­es­sier­te Läu­fer oder Neu­gie­ri­ge ob der Ver­rückt­hei­ten, die ver­ste­hen wol­len, was ande­re zu Ultras treibt, vor­sieht, so ist das doch schon ein Lauf­buch für Akti­ve. Madry kon­zen­triert sich dabei vor allem auf die bei­den „klas­si­schen“ Ultra­dis­zi­pli­nen 100 km und 24 Stun­den, bleibt also vor­wie­gend beim Stra­ßen­lauf. Zugleich sind die Rat­schlä­gen, Hin­wei­se und Ant­wor­ten aber doch in der Regel so all­ge­mein gehal­ten, dass sie sich für die meis­ten Ultrastre­cken anwen­den las­sen.

Was ich auch noch fest­ge­stellt habe: Nachts kann man ent­we­der schla­fen oder lau­fen. (91)

Er fängt dabei mit all­ge­mei­nen Über­le­gun­gen zum Ultra an, bevor sich der Haupt­teil – näm­lich fast 100 Sei­ten – mit dem Trai­ning, unter­glie­dert nach Grund­la­gen (als „Bau­stei­ne“ sind die recht tref­fend bezeich­net), Plä­nen, Beson­der­hei­ten und Jah­res­pla­nung, befasst. Abschlie­ßend gibt es noch zwei Kapi­tel zum Wett­kampf­ge­sche­hen sowie der Psy­cho­lo­gie und Sozio­lo­gie des Ultras.

So weit ich das erken­nen und beur­tei­len kann, sind das vor­wie­gen ver­nünf­ti­ge Rat­schlä­ge, mit denen mal nicht viel falsch machen dürf­te. Das Trai­ning zum Bei­spiel wird klas­sisch peri­odi­siert in Grund­la­gen, spe­zi­el­le Vor­be­rei­tung (mit Peak und eher zurück­hal­ten­dem Tape­ring), Wett­kampf­pha­se und Rege­ne­ra­ti­on. Natür­lich liegt der Schwer­punkt dann auf lan­gen Läu­fen, die eigent­li­che Tem­po­ar­beit erle­digt Madry in der Neben­sai­son und lässt sie im Haupt­trai­ning nur noch erhal­tend reak­ti­vie­ren. Dabei gilt sowie­so: Im Ultra­l­auf-Kom­pass wird sich nicht für jedes Fit­zel­chen Trai­nings­ge­stal­tung eine abso­lut gül­ti­ge Ant­wort fin­den las­sen. Denn Madry geht von einem mün­di­gen, nach- & mit­den­ken­den Ath­le­ten aus, der auch schon über Lauf­erfah­rung ver­fügt – das ist ja wohl auch der Nor­mal­fall, dass man meist schon ein paar Mara­thons und Kür­ze­res in den Bei­nen hat, bevor man an Ultras, zudem auch noch leis­tungs­in­ter­es­siert, her­an­geht. Madry spricht dabei immer wie­der ger­ne vom „läu­fe­ri­schen Gesamt­kunst­werk“ – und das ist auch typisch: Nicht ein einzelner/​wenige Ansatz­punkt ist erfolgs­ver­hei­ßend, son­dern es sind sehr vie­le, sehr ver­schie­de­ne Stell­schrau­ben, an denen zur Leis­tungs­ver­bes­se­rung, zur Aus­rei­zung der per­sön­li­chen läu­fe­ri­schen Poten­zi­als, gedreht wer­den kann.

Ich habe es nicht aus­pro­biert (und auch nicht alles durch­ge­rech­net). Beim Lesen des Ultra-Kom­pass sind mir aber aus mei­ner (beschei­de­nen) Ultra­er­fah­rung jedoch kei­ne gro­ben Unstim­mig­kei­ten auf­ge­fal­len oder Sachen, die mir suspekt erschie­nen. Aller­dings gibt es eben auch kei­ne „neu­en“ Weis­hei­ten – ganz wie es Madry eben ver­spricht. Sehr zurück­hal­tend (um es so zu for­mu­lie­ren) fand ich sei­ne Ein­stel­lung zur Psy­che beim lau­fen – ihm lie­gen die kör­per­li­chen Din­ge offen­bar mehr (und sie sind ja auch abso­lu­te Vor­aus­set­zung). Aber ich wür­de der men­ta­len Vor­be­rei­tung und Ver­fas­sung wäh­rend Wettkampf/​Lauf etwas mehr Bedeu­tung bei­mes­sen.

Aber der Ultra­l­auf-Kom­pass ist auf jeden Fall lesens­wert. Und er ist vor allem als Nach­schla­ge­werk sehr hilf­reich, wenn man sein eige­nes, schlum­mern­des Halb­wis­sen noch mal über­prü­fen oder kor­ri­gie­ren möch­te …

Aber eine schö­ne Ant­wort auf die oft gestell­te ner­vi­ge Fra­ge »Wovor läufst Du eigent­lich denn weg??« ist: »Ich lau­fe vor nichts weg, son­der zu allem hin. Auch zu mir selbst, und ich bin noch lan­ge nicht da.« (171)

Nor­bert Madry: Der Ultra­l­auf-Kom­pass. Für alle, die es wirk­lich wis­sen wol­len. Grün­wald: Copress 2016. 176 Sei­ten. ISBN 9783767911116.

Waldlauf

… ich ver­su­che mich an den Wald­lauf zu erin­nern, den ich in der Früh gemacht habe. Die Ruhe, das mono­to­ne Auf­set­zen der Füße. Ab und zu die Arme schlen­kern, ganz locker. Tief durch­at­men, das lang­sa­me Erhit­zen des Kör­pers. Die voll­kom­me­ne Lee­re im Kopf. Die Augen erfas­sen den Boden, die Baum­stäm­me. Im Lau­fen tan­zen die Bäu­me vor den Augen, ich lau­fe, bis die Land­schaft vor mei­nen Augen auf- und abhüpft, wie ein ver­rück­tes Fern­seh­bild … Urs Jaeg­gi, Brand­eis, 10f.

Abgekürzt und gedopt: „Die Philosophie des Laufens“

austin & reichenbach, philosophie des laufensDer Titel ist recht voll­mun­dig und hat mich sofort gepackt und neu­gie­rig gemacht: Die Phi­lo­so­phie des Lau­fens – das klingt span­nend und viel­ver­hei­ßend. Nicht etwa „eine“ Phi­lo­so­phie oder „Lau­fen und Phi­lo­so­phie“, nein, Aus­tin und Rei­chen­bach ver­hei­ßen auf die­sen knapp 200 Sei­ten Die Phi­lo­so­phie des Lau­fens. Und lei­der kön­nen sie die­ses Ver­spre­chen so über­haupt nicht ein­lö­sen.

Die Nen­nung der bei­den Her­aus­ge­ber­na­men ist aller­dings schon ein Hin­weis auf ein Pro­blem, dass ich mit dem Buch habe. Denn letzt­lich sind das eher zwei Bücher. Der eigent­li­che Kern basiert auf einer eng­lisch­spra­chi­gen Ver­öf­fent­li­chung, die Aus­tin bereits 2007 mit dem ungleich pas­sen­de­ren Titel Run­ning & Phi­lo­so­phy: A Mara­thon for the Mind her­aus­gab. Doch von den 19 dort gedruck­ten Auf­sät­zen hat der deut­sche Her­aus­ge­ber nur acht über­setzt und über­nom­men und die „Lücke“ mit deut­schen Bei­trä­gen gefüllt. Die sind aber nun alle gera­de über­haupt kei­ne phi­lo­so­phi­sche Beschäf­ti­gung mit dem Lau­fen, so dass sich das sehr sorg­fäl­tig und schön her­ge­stell­te Buch gleich mal als Mogel­pa­ckung erweist – oder, um es mit einem Läu­fer­bild zu sagen, der Mara­thon ist hier kaum 20 Kilo­me­ter lang.

Und wenn man das Bild noch wei­ter­spinnt: Statt eines schö­nen und schwie­ri­gen Berg- oder Land­schafts-Mara­thons erwar­tet den Leser eine wenig inspi­rie­ren­de Stre­cke durch fla­che Indus­trie­ge­bie­te. Denn selbst wenn ich die deut­schen Bei­trä­ge erst ein­mal außen vor­las­se – der Ertrag der Tex­te ist weder auf phi­lo­so­phi­scher noch auf läu­fe­ri­scher Sei­te sehr hoch.

Das zwei­te von drei Vor­wor­ten ent­wi­ckelt zunächst das Pro­gramm:

[…]Läu­fer sind auf der Suche nach mehr als nur der Ziel­li­nie oder dem Ende der Trai­nings­run­de. Für vie­le ist Lau­fen auch ein Weg, um Wahr­hei­ten zu fin­den, über sich selbst und die Din­ge in ihrem Leben, die ihnen etwas bedeu­ten. Für vie­le von uns ist Lau­fen ein Weg, sich selbst ken­nen­zu­ler­nen, ein Teil unse­res Weges zum Glück­lich­sein. Das Lau­fen schafft uns Frei­räu­me, in denen wir uns über unser Leben und sei­ne gro­ßen Fra­gen Gedan­ken machen kön­nen. Und an eben­je­nem Punkt über­schnei­den sich die Zie­le des Läu­fers und die des Phi­lo­so­phen. Sowohl das Lauf als auch das Phi­lo­so­phie­ren kön­nen uns in ihren bes­ten Momen­ten hel­fen, etwas über uns selbst zu erfah­ren und dar­über, was wich­tig ist; viel­leicht sogar etwas über Wirk­lich­keit an sich.

Die hier geweck­ten Erwar­tun­gen kann das Buch dann aber kaum ein­lö­sen. Sicher, eini­ge inter­es­san­te Ideen und Anre­gun­gen ste­cken da drin. Aber die wer­den fast immer nicht aus­rei­chend ent­wi­ckelt, um wirk­lich eine „Phi­lo­so­phie des Lau­fens“ begrün­den zu kön­nen.

Micha­el Aus­tin über­trägt das Kon­zept der Freund­schaft aus Aris­to­te­les Niko­ma­chi­scher Ethik auf Lauf­freund­schaf­ten – ein eigent­lich nahe­lie­gen­der Trans­fer, der auch passt, aber wenig neue Erkennt­nis oder Ein­sicht ins Lau­fen lie­fert. Ray­mond Bel­liot­ti bringt in einer etwas gezwun­ge­nen Syn­the­se Lau­fen und die Macht über Nietz­sches Macht­vor­stel­lun­gen zusam­men (konn­te mich über­haupt nicht über­zeu­gen).

Ganz unpas­send und wenig erkennt­nis­för­dernd fand ich den Ver­such von Gre­go­ry Bass­ham, sie­ben „Vor­aus­set­zun­gen“ des Erfolgs (im Leben, der Kar­rie­re und über­haupt) auf das Lau­fen anzu­wen­den. Das ist genau so, wie es sich anhört: Selbst­hil­fe­ge­blub­ber.

Ray­mond Vanar­ra­gons „Lob des Jog­gers“ führt ein auf den ers­ten Blick viel­ver­spre­chen­des Kri­te­ri­um zur Unter­schei­dung von Jog­gen und Lau­fen ein: Nicht das Tem­po, son­dern das Ziel führt zur Dif­fe­ren­zie­rung. Jog­gen heißt dann, sich bewe­gen, um fit zu blei­ben oder zu wer­den. Lau­fen dage­gen hat ande­re Zie­le: pri­ze und chall­enge, also unge­fähr: Sieg und/​oder Her­aus­for­de­rung (Van­n­a­ra­gon unter­schei­det beim Lau­fen noch ein­mal zwei Typen). Eine zumin­dest theo­re­tisch durch­aus über­zeu­gen­de Typo­lo­gie, fin­de ich – die müss­te man mal empi­risch tes­ten …

Am span­nends­ten und inter­es­san­tes ist der Text von Chris­to­pher Mar­tin zum „Lau­fen als ästhe­ti­sche Erfah­rung“, der sich dafür bei Dew­eys Ästhe­tik-Kon­zept bedient. Hea­ther Reids „Die Frei­heit des Lang­stre­cken­läu­fers“ ist eine exis­ten­tia­lis­ti­sche Lek­tü­re von Alan Sil­li­toes The Loneli­ne­ss of the Long Distance Run­ner, die aber kaum über eine behut­sam kon­tex­tua­li­sie­ren­de Para­phra­se hin­aus­kommt. Einen durch­aus inter­es­san­ten Ansatz bie­tet Jere­my Wis­new­s­ki, der die ver­än­der­te Welt­wahr­neh­mung beim und durchs Lau­fen unter die Lupe nimmt und sich dafür der Phä­no­me­no­lo­gie von Meleau-Pon­ty bedient, lei­der aber etwas ober­fläch­lich bleibt (das ist ja eine grund­sätz­li­che Krank­heit aller Bei­trä­ge in die­sem Band).

Aber: Auf den ers­ten Blick nett, aber ein­fach nur Anwen­dung von ein paar ver­streu­ten Ideen der Phi­lo­so­phie­ge­schich­te auf die Tätig­keit des Lau­fens oder den Sta­tus des Läu­fers. Also eigent­lich in der fal­schen Rich­tung gedacht: Lau­fen und Läu­fe­rin­nen die­nen hier vor allem als Exem­pli­fi­ka­tio­nen phi­lo­so­phi­scher Theo­re­me oder Über­zeu­gun­gen. Erwar­tet hät­te ich hin­ge­gen eine phi­lo­so­phi­sche Unter­su­chung des Lau­fens (Mark Row­lands gelingt das in Der Läufer und der Wolf zwar auch nicht erschöp­fend, aber wesent­lich bes­ser als die­sem Band), nicht eine läu­fe­ri­sche Betrach­tung der Phi­lo­so­phie.

Ganz beson­ders ärger­lich fand ich aber das deut­sche Füll­ma­te­ri­al. Viel mehr ist das näm­lich nicht. In einem Blog hät­ten die bes­ser Platz gefun­den (da kom­men sie bzw. ihr Kern, ihre Idee ja auch her): Isa­bel Bog­dan schreibt über ihren ers­ten 10-km-Lauf, Flo­ri­an Basch­ke über das Lau­fen mit Ipho­ne-Apps, Jan Drees über das Leicht­ath­le­tik­trai­ning und so wei­ter – das Pro­blem ist aber: Phi­lo­so­phie oder gar eine Phi­lo­so­phie des Lau­fens (oder wenigs­tens eine Ver­knüp­fung oder Ver­bin­dung von Phi­lo­so­phie und Lau­fen) kommt da über­haupt nicht vor, so dass die Tex­te – die als ein­zel­ne durch­aus nett sind – mich an die­sem Ort, in die­sem Zusam­men­hang ein­fach stö­ren: Das ist Unsinn, eine Mogel­pa­ckung. Zumal Peter Rei­chen­bach lei­der über­haupt nicht erklärt, war­um er die­sen Weg wählt, war­um das ori­gi­na­le Kon­zept einer phi­lo­so­phi­schen Beschäf­ti­gung aus unter­schied­li­chen phi­lo­so­phi­schen Blick­win­keln und Denk­schu­len mit ver­schie­de­nen Aspek­ten des Lau­fen nicht bei­be­hal­ten wur­de. So bleibt ein Buch, das weder Jog­ger noch Läu­fer, weder Spa­zier­gän­ger noch Wal­ker ist, son­dern ein uner­quick­li­ches Kud­del­mud­del.

Micha­el W. Aus­tin, Peter Rei­chen­bach (Hrsg.): Die Phi­lo­so­phie des Lau­fens. Ham­burg: mai­risch 2015. 197 Sei­ten. ISBN 978−3−938539−37−8

Von Wölfen, Hunden und den Gründen des Laufens

rowlands-läuferDer Läu­fer und der Wolf – das ist schon ein­mal eine Ansa­ge, die Mark Row­lands da im Titel sei­nes Buches macht. Und lei­der ist sie etwas irre­füh­rend. Das ist aber auch schon fast der größ­te Makel, den ich an sei­nem Werk beim Lesen ent­de­cken konn­te.

Mark Row­lands ent­wi­ckelt hier jeden­falls so etwas wie eine Phi­lo­so­phie des Lau­fens beim Lau­fen oder durch das Lau­fen. Lau­fen, dar­auf legt er immer wie­der Wert, hat in der moder­nen Welt für den moder­nen Men­schen eine beson­de­re Stel­lung. Denn das Lau­fen ist Zweck­frei­heit in Rein­form. Hier, beim oder im Lau­fen, fin­det Row­land einen ech­ten intrin­si­schen Wert, der in einer Zeit, die sich als instru­men­tel­le Peri­ode beschrei­ben lässt, eine gro­ße Aus­nah­me ist. Und – das ist ein wenig para­dox – dar­in liegt gera­de der Wert oder die Fas­zi­na­ti­on des Lau­fens: Dadurch, dass es intrin­sisch moti­viert ist – also nicht durch Über­le­gun­gen wie längeres/​gesünderes Leben, bes­se­res Aus­se­hen, schnel­le­re Zei­ten – zeigt uns das Lau­fen, dass es auch in einer (fast) durch­ge­hend instru­men­tell orga­ni­sier­ten und ver­fass­ten Welt intrin­si­sche Wer­te geben kann und auch gibt:

Lau­fen ist das ver­kör­per­te Erfas­sen von intrin­si­schem Wert im Leben. Das ist der Sinn des Lau­fens. Das ist es, was Lau­fen wirk­lich ist. (227)
Lau­fen ist einer der Momen­te im Leben, wo die Zwe­cke und Zie­le ent­fal­len. (216)

Und das führt wie­der­um zu einer wei­te­ren, emi­nent wich­ti­gen Beob­ach­tung über den Sta­tus des Lau­fens:

Lau­fen […] ist ein Weg, um zu ver­ste­hen, was wich­tig oder wert­voll im Leben ist. (15)

Das ent­wi­ckelt Row­lands in einer Art Free-Flow-Phi­lo­so­phie­ren, einem Frei­stil-Den­ken: Ereig­nis­se, Abschnit­te sei­ner Bio­gra­phie, das Tun des eige­nen Lebens die­nen ihm als Anlass und Impuls, über grö­ße­re Zusam­men­hän­ge nach­zu­sin­nen (und die Lese­rin­nen dar­an teil­ha­ben zu las­sen). Manch­mal ein­fach so, manch­mal mit Sys­tem, manch­mal mit Rück­be­zug (aber eher all­ge­mein, nicht spe­zi­ell oder aus­ge­spro­chenn detail­liert) auf die Phi­lo­so­phie­ge­schich­te. Als wesent­lich zeigt sich in Der Läufer und der Wolf, das neben ande­rem auch ein Läu­fer­buch ist (mit dem typi­schen Abschrei­ten der eige­nen Läu­fer­kar­rie­re – dem Lau­fen in der Kind­heit, dem Trai­ning, dem ers­ten Mara­thon, den Hun­den („Wöl­fe“!) als Moti­va­to­ren fürs Lau­fen), die Beob­ach­tung der Pro­zess­haf­tig­keit der Zeit, also: des Alterns. Zu den typi­schen Eigen­hei­ten eines Lauf­buchs gehört auch die wie­der­hol­te Beschwö­rung eines „Herz­schlag des Lau­fes“, die Row­land immer wie­der erzählt: Jeder Lauf hat für sich sei­nen eige­nen Herz­schlag, sein eige­nes Leben, das es zu ent­de­cken, zu spü­ren und zu erfah­ren gilt – ein Moment übri­gens, an dem der Intel­lekt sei­ne Gren­zen auf­ge­zeigt bekommt.

Außer­dem beob­ach­ten Row­lands noch eine Ver­än­de­rung in Stu­fen beim und durch das Lau­fen auf der Lang­stre­cke: Er beschreibt das als spi­no­zis­ti­sche, car­te­sia­ni­sche, hume­sche und sar­tre­sche Pha­sen des Lau­fens, die wäh­rend dem Lau­fen zu einer zuneh­men­den „Ich-Auf­lö­sung“ füh­ren und den Läu­fer, das ist natür­lich der ent­schei­den­de Punkt, Frei­heit schen­ken, ihn (von sich und der Welt) befrei­en.

Wenn ich den­ke, erfah­re ich mich selbst nor­ma­ler­wei­se dabei. Beim Lang­stre­cken­lauf erfah­re ich mich nicht beim Den­ken, weil die Kon­trol­le, die ich über mich selbst habe, weni­ger wird. An die Stel­le des Den­kens tre­ten Gedan­ken, anschei­nend ganz und gar nicht mei­ne eige­nen, die aus dem Nir­gend­wor kom­men, völ­lig uner­war­tet, und gleich wie­der im Dun­kel ver­schwin­den. (77)

Durch die­ses gan­ze Bün­del an dem Lau­fen spe­zi­fisch eige­nen Erfah­run­gen (Zweck­frei­heit, Herz­schlag, Be-Frei­ung) bekommt das Lau­fen sei­nen spe­zi­fi­schen Wert für den moder­nen Men­schen und sei­ne Stel­lung im Leben: Das Lau­fen kann (nicht muss!) uns den „inne­ren Wert des Lebens“ nicht unbe­dingt zei­gen, aber zumin­dest auf­zei­gen oder vor­füh­ren:

Das Lau­fen, so mei­ne The­se, hat einen inne­ren Wert. Und des­halb kommt man, wenn man läuft und es aus dem rich­ti­gen Grund tut, mit dem inne­ren Wert des Lebens in Berüh­rung. (14f.)

Und damit kann das Lau­fen ja unge­heu­er viel – näm­lich nicht weni­ger, als den Sinn des Lebens zu erschlie­ßen:

Aber Lau­fen ist ein Weg, und als sol­cher ermög­licht das Lau­fen es uns, die Fra­ge nach dem Sinn des Lebens zu beant­wor­ten (15)

Mark Row­lands: Der Läufer und der Wolf. 2. Auf­la­ge. Ber­lin: Rogner & Bern­hard 2014. 240 Sei­ten. ISBN 9783954030484.

Lang­stre­cken­lau­fen ist eine ziel­ori­en­tier­te Leis­tung, die zeigt, wie bank­rott das Kon­zept der ziel­ori­en­tier­ten Leis­tung ist. (39)

Ein „Tanz mit den Hindernissen“ – Kilian Jornets „Lauf oder stirb“

Bei­na­he hät­te ich das Buch noch auf der ers­ten Sei­te zuge­klappt und in den Papier­korb geschmis­sen. Da steht näm­lich so hirn­ver­brann­ter Unsinn wie:

„Hol dir den Sie­ger­kranz, oder stirb bei dem Ver­such, ihn zu erlan­gen. Ver­lie­ren heißt ster­ben, gewin­nen heißt leben. […] Sport ist ego­is­tisch, weil man ego­is­tisch sein muss, um kämp­fen und lei­den zu kön­nen, um die Ein­sam­keit und die Höl­le zu lie­ben. […] Denn ver­lie­ren heißt ster­ben. Und du kannst nicht ster­ben, ohne alles gege­ben zu haben, ohne dass Schmer­zen und Wun­den dich zum Wei­nen gebracht hät­ten. Du darfst nicht auf­ge­ben. Du musst kämp­fen bis zuletzt. Denn Ruhm ist das Aller­größ­te, und dein ein­zi­ges Ziel muss sein, ihn zu erlan­gen oder auf der Stre­cke zu blei­ben, nach­dem du alles gege­ben hast. […] Es ist an der Zeit zu lei­den, es ist an der Zeit zu kämp­fen, es ist an der Zeit zu sie­gen. Lauf oder stirb! (9f.)

Zum Glück – und das ist wirk­lich ein Glück – ist es mit solch mar­kig-mar­tia­li­scher gewalt- und kriegs­ver­herr­li­chen­der Sprü­che­klop­fe­rei dann auch schnell wie­der vor­bei. Denn der Rest von Lauf oder stirb (der Titel hät­te mich ja war­nen kön­nen) ist ein aus­ge­zeich­ne­tes Lauf­buch.

jornet, lauf oder stirbDa geht es näm­lich wirk­lich um das Lau­fen. Und natür­lich um Kili­an Jor­net. Das führt dazu, dass „Lau­fen“ hier manch­mal etwas ande­res ist als das, was „nor­ma­le“ Men­schen dar­un­ter ver­ste­hen. Jor­net, in den Ber­gen gebo­ren (der Hin­weis darf nie feh­len …), schon früh von sei­nen Eltern in das Wett­kampf­ge­sche­hen der Berg­sport­ar­ten, ins­be­son­de­re des Ski­berg­stei­gens, ein­ge­führt, läuft näm­lich vor allem sehr extrem. Fast nur im Gebir­ge, ger­ne mal ohne Weg und Steg, ger­ne mal weit über das hin­aus­ge­hend, was ver­nünf­tig ist und mit halb­wegs rea­lis­ti­scher Risi­ko­ein­schät­zung noch zu ver­tre­ten ist. Nach­ah­men soll­te man das also nicht unbe­dingt. Lauf oder stirb hat aber auch gar nicht Anspruch, ein Anlei­tungs­buch zu sein: Es gibt kei­ne Trai­nings­plä­ne (die wer­den nicht ein­mal erwähnt), kei­ne Aus­rüs­tungs­tipps, es ist kei­ne Ernäh­rungs­bi­bel und auch kein Weg­wei­ser zu beson­ders tol­len Trails. Statt­des­sen erzählt Jor­net wirk­lich vom Lau­fen und der Fas­zi­na­ti­on dar­an: Der Fas­zi­na­ti­on des Drau­ßen-seins: Dem Erle­ben der Umwelt, der Ber­ge und Gebir­ge, der Pflan­zen und der Tie­re, dem Wet­ter und der Aus­sich­ten, den Natur­schau­spie­len.
Der Fas­zi­na­ti­on der kör­per­li­chen Erfah­rung: Das wört­li­che erlau­fen neu­er Hori­zon­te, neu­er Höhen und Gebie­te.
Der Fas­zi­na­ti­on der Her­aus­for­de­rung von Gren­zen und dem Über­schrei­ten.
Der Fas­zi­na­ti­on des Lau­fens nicht nur als Bewe­gung­form, als Ablauf von Bewe­gun­gen (auch das spielt aber eine Rol­le), son­dern auch als eine Art Exis­tenz, ein psy­chi­scher Zustand, eine Art Sucht.
Und, nicht zu ver­ges­sen: die Fas­zi­na­ti­on des Gewin­nens.
Denn der Jor­net, der sich hier prä­sen­tiert, läuft um zu sie­gen, er ist ein (rei­ner) Wett­kampf­läu­fer: Läu­fe, die der Vor­be­rei­tung, dem Trai­ning die­nen oder ein­fach so unter­nom­men wer­den, spie­len hier kaum eine Rol­le. Es geht ums gewin­nen. Oder sie die­nen dazu, ande­re zu besie­gen. Im direk­ten Ver­gleich wie beim UTMB oder im Unter­bie­ten von Best­zei­ten (zum Bei­spiel beim TRT oder auf dem Kili­man­dscha­ro): Auf das Sie­gen kommt es an.

Ich genie­ße den Wett­kampf. Jeden davon möch­te ich gewin­nen und dabei das Gefühl erle­ben, als Ers­ter durchs Band zu lau­fen. Es ist wun­der­bar, nach der letz­ten Kur­ve in die Ziel­ge­ra­de ein­zu­bie­gen und das Band am Ende zu erspä­hen. Mich noch ein­mal umzu­dre­hen und zu ver­ge- wis­sern, dass nie­mand mir die­sen Moment neh­men kann. Nach vor­ne zu schau­en, die Augen zu schlie­ßen und noch ein­mal Gas zu geben, um mich vom Publi­kum zum Sieg tra­gen zu las­sen. In jenem Moment ver­ges­se ich den Schmerz, spü­re ich mei­nen Kör­per nicht mehr, son­dern bin, von den Emo­tio­nen die­ser letz­ten Sekun­den erfüllt, ganz bei mir. Und dann füh­le ich, wie mein schweiß­nas­ser Kör­per das Ziel­band zer­reißt und es zu Boden fällt. (31)

Das macht Jor­net aller­dings nicht allei­ne, son­dern aus­ge­spro­chen pro­fes­sio­nell mit gro­ßer Mann­schaft, die schnell zwei Dut­zend und mehr „Mit­ar­bei­ter“ umfasst. Das fand ich etwas scha­de, dass er die­sen Umstand ger­ne etwas abtut: Natür­lich sind die ihm wich­tig – die Höf­lich­keit gebie­tet das, aber beson­ders detail­liert oder inten­siv geht er nicht auf sie ein, weder auf die Läu­fer, die ihm als Tem­po­ma­cher die­nen (er nennt das meis­tens „Trai­ner“), noch das Ver­sor­gungs­team und schon gar nicht der gro­ße media­le Zir­kus. Dass sein Spon­sor Salo­mon bei der Pyre­nä­en­que­rung auch einen Hub­schrau­ber im Ein­satz hat­te, erfährt man hier nicht – an weni­gen Stel­len wer­den Kame­ra­leu­te und Foto­gra­fen immer­hin erwähnt.

Das soll jetzt über­haupt nicht sei­ne Leis­tung schmä­lern, hät­te viel­leicht aber ein voll­stän­di­ge­res Bild abge­ge­ben. Denn Jor­net ist, wie viel­leicht kaum ein ande­rer Trail-/Ul­tra­l­äu­fer über­haupt, eine media­le Insze­nie­rung, die sein Spon­sor maß­geb­lich vor­an­treibt. Das mag, um wie­der zum eigent­li­chen zurück­zu­kom­men, mit sei­nem Lauf­stil zusam­men­hän­gen: Lau­fen, das ist für Jor­net ein „Tanz mit den Hin­der­nis­sen“ (66). Dazu gehört auch, sich irr­sin­nig irgend­wel­che Hän­ge und Rin­nen her­ab­zus­tü­ren, über Gra­te zu bret­tern – und dabei noch locker und genie­ßend aus­zu­se­hen. Davon erfährt man auch in Lauf oder stirb viel. Und von dem, was in einem sol­chen Aus­nah­me­läu­fer wäh­rend des Lau­fens vor­geht, wie er das Lau­fen, sei­ne Umge­bung und sich selbst wahr­nimmt – das sind groß­ar­ti­ge Pas­sa­gen wie die­se hier:

Inmit­ten die­ser Far­ben­pracht glei­chen wir Tän­zern, die sich im Rausch der Kraft fort­be­we­gen. Wir spie­len mit dem brei­ten, sich wel­len­för­mig dahin­schlän­geln­den Weg, der uns alles gibt, was wir brau­chen, um Spaß zu haben. Jede Kur­ve, jedes noch so klei­ne Gefäl­le, jeder Son­nen­strahl, der uns trifft, belebt unser Tem­po. Jede Aus­re­de ist recht, um die Schritt­fre­quenz mei­ner Bei­ne zu erhö­hen und zu spü­ren, wie mei­ne Mus­keln sich beim Absto­ßen vom Boden zusam­men­zie­hen und wäh­rend der Flug­pha­se voll­kom­men ent­span­nen. Mei­ne Uhr zeigt mir an, dass ich mich mit sech­zehn Stun­den­ki­lo­me­tern fort­be­we­ge. Ich füh­le mich wirk­lich gut, und mei­ne Füße wür­den den Unter­grund am liebs­ten gar nicht berüh­ren. Wir kom­men mit gro­ßer Geschwin­dig­keit zwi­schen den Bäu­men vor­an, flie­gen förm­lich mit lei­sem Schritt und gleich­mä­ßi­ger Atmung, sodass uns nichts ent­geht, was um uns her­um pas­siert. (62)

Natür­lich gehört auch der Schmerz dazu, die Über­win­dung, das Lösen von Pro­ble­men – sei es der Ver­sor­gung, der Ori­en­tie­rung oder der Mus­ku­la­tur, die viel­leicht nicht ganz so unter­neh­mungs­lus­tig ist.

Die Beses­sen­heit, mit der sich Jor­net dem Lau­fen ver­schreibt, ist sicher nicht ganz üblich. Nicht ganz durch­schnitt­lich sind aber auch sei­ne Vor­aus­set­zun­gen. Für ihn ist es vor allem die Psy­che, die ihn zum Gewin­ner macht. Das ist natür­lich min­des­tens Under­state­ment, eigent­lich sogar etwas geschum­melt. Denn natür­lich geht so etwas – Spit­zen­leis­tun­gen wie der mehr­fa­che Sieg beim UTMB oder ähn­li­ches – nicht ohne ent­spre­chen­de phy­sio­lo­gi­sche Vor­aus­set­zun­gen. Aber man soll­te bei einem Läu­fer­buch viel­leicht auch nicht jedes Wort auf die Gold­waa­ge legen. Denn unab­hän­gig von mei­nen klei­nen Ein­wän­den1 ist Lauf oder stirb ein tol­les Buch, dass die gran­dio­sen Erfah­run­gen, die man – ob man so schnell, weit und extrem läuft wie Jor­net oder wie ich etwas gemä­ßig­ter 😉 – beim Lau­fen immer wie­der machen kann, sehr anschau­lich und gera­de­zu mit­rei­ßend beschreibt.

Kili­an Jor­net: Lauf oder stirb. Das Leben eines bedi­nungs­lo­sen Läu­fers. Mün­chen: Malik 2013. 222 Sei­ten. ISBN 9783890297644.

  1. Dazu gehört übri­gens auch noch die Kri­tik am etwas schlam­pi­gen Lek­to­rat, dass doch tat­säch­lich mehr­mals (S. 15 u.ö.) Gali­zi­en statt Gali­ci­en ste­hen lässt!

Essen und Laufen

Eat & Run, CoverIst das ein Lauf­buch? Der Autor­na­me lässt es ver­mu­ten: Scott Jurek ist einer der gro­ßen Ultra­l­äu­fer. Aber Eat & Run – der Titel ver­rät es ja schon – dreht sich nicht nur ums Lau­fen. Im Gegen­teil: Über wei­te Stre­cken geht es vor allem ums Essen. Nicht ohne Grund steht das im Titel vor­ne. Und zwar um das rich­ti­ge Essen – näm­lich die vega­ne Ernäh­rung. Jurek schil­dert aus­führ­lich sei­nen Weg von der „nor­ma­len“ ame­ri­ka­ni­schen Kost des mitt­le­ren Wes­tens zur vega­ni­schen Ernäh­rung. Das geschieht bei ihm vor allem aus (schein­bar) gesund­heit­li­chen Grün­den und weil er meint zu beob­ach­ten, dass er sich damit bes­ser fühlt. Zugleich pla­gen ihn aber auch lan­ge und immer wie­der die Zwei­fel, ob er mit vega­nen Lebens­mit­teln aus­ge­wo­gen, gesund und in allen Berei­chen aus­rei­chend genährt ist, um Ultras zu lau­fen.

Scha­de, dass das eigent­li­che Lau­fen dann so eine ver­gleichs­wei­se klei­ne Rol­le spielt. Sicher, die gro­ßen Ereig­nis­se sind drin – etwa sein über­ra­schen­der Sieg beim Wes­tern Sta­te 1999. Sein Kampf mit dem Bad­wa­ter, mit dem der von Ste­ve Fried­man in eine angen­hem les­ba­re, durch­aus span­nen­de und abwechs­lungs­rei­che Erzäh­lung gebrach­te Text ein­setzt. Was mir aber oft fehl­te: Was Jurek beim Lau­fen eigent­lich erlebt, wie er das Lau­fen erlebt und wahr­nimmt. Hier geht es dage­gen oft um „Äuße­res“ – sein Trai­ning, die Wett­kämp­fe, die Stre­cken auch mal, das aber schon recht ober­fläch­lich oft.

Typisch für ein Lauf­buch, gera­de von Ultra­l­äu­fern, ist aber ein wesent­li­cher Aspekt: Die per­ma­nen­te Über­bie­tungs­lo­gik (hier aber gar nicht oder nur wenig reflek­tiert). Das muss immer noch etwas här­ter, noch etwas wei­ter, stei­ler, extre­mer und gefähr­li­cher sein. Bei Jurek kommt noch hin­zu: Mit immer mehr Han­di­cap gelau­fen – zum Bei­spiel wie den Hard­rock 100 mit ver­letz­tem Knö­chel -, also immer mehr Scha­den an Leib und See­le in Kauf neh­mend. Aber für „tough men“ ist das natür­lich gar kein Pro­blem, son­dern eine Her­aus­for­de­rung. Viel wei­ter reicht der Hori­zont Jureks hier nicht – scha­de eigent­lich. Scha­de auch, dass er sich auf’s Gewin­nen beschränkt. Sein Schei­tern spielt nur eine sehr klei­ne Rol­le – die Auf­ga­be beim UTMB 2008 ist ihm etwas nur einen hal­ben Satz wert und wird mit einer Ver­let­zung ent­schul­digt. Das ist etwas para­dox, weil er gera­de zuvor sei­ten­wei­se über sei­ne heroi­sche Groß­tat, den Hard­rock 100 schon ver­letzt zu begin­nen, schrieb. Aber es passt in den Ein­druck, der sich bei mir immer mehr ver­stärk­te: Es geht ihm hier nicht ums Lau­fen, son­dern um das Gewin­nen – also um das Besie­gen ande­rer Läu­fer. Das passt nur wenig mit sei­ner ger­ne beschwo­re­nen Beschei­den­heit zusam­men – gera­de wenn es in Sät­zen gip­felt wie:

No one wants to win more than I do. (154)

Ver­nunft und Ver­stand darf man hier aber gene­rell nicht zu viel erwar­ten.

Bei man­chen Din­gen reicht mei­ne Geduld aller­dings auch nicht: Zum Bei­spiel schreibt er lan­ge und aus­führ­lich über die Idee, mit mög­lichst klei­nem „impact“ auf der Erde zu leben, also mög­lichst wenig bis gar kei­ne Res­sour­cen zu ver­brau­chen. Nur um dann weni­ge Sei­ten spä­ter sich ganz selbst­ver­ständ­lich ins Flug­zeug zu set­zen, um ein paar Stun­den zum nächs­ten Lauf zu flie­gen, weil sei­ne Moti­va­ti­on auf den „Haus­run­den“ gera­de im Kel­ler ist. So etwas kapie­re ich ein­fach nie …

Das klingt jetzt alles recht nega­tiv – aber so rich­tig warm gewor­den bin ich mit Eat & Run eben nicht. Obwohl ich die Leis­tun­gen Jureks sehr schät­ze, blieb mir sei­ne Hal­tung zum Lau­fen, wie sie sich hier zeigt, ein­fach fremd.

Scott Jurek with Ste­ve Fried­man: Eat & Run. My unli­kely Jour­ney to Ultra­ma­ra­thon Great­ness. Lon­don u.a.: Bloomsbu­ry 2012. 260 Sei­ten. ISBN 9781408833384

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