Büch­er über das Laufen gibt es haufen­weise. Fast alle beschränken sich aber auf psy­chol­o­gis­ches und das ganze drumherumg wie Aus­rüs­tung, Train­ing, Wet­tkampf. Arbeit­en zu ein­er orig­inären Psy­cholo­gie des Laufens, die über die Beschrei­bung oder Samm­lung von schö­nen Geschicht­en zum runner’s high hin­aus­ge­hen, sind dabei eher sel­ten zu find­en. Immer wieder taucht aber ein Titel auf: Andreas M. Marlovits Buch “Lauf-Psy­cholo­gie. Dem Geheim­nis des Laufens auf der Spur”. In Bib­lio­theken aber trotz­dem sehr sel­ten zu find­en — dank Book­look­er kam ich aber den­noch recht gün­stig an ein Exem­plar, das extra den weit­en Weg aus der Schweiz zu mir machte.

Worum geht es Marlovits? Eben nicht nur um die ange­bliche (er zweifelt da offen­bar, ohne das aber weit­er zu ver­fol­gen, weil es nicht sein eigentlich­es The­ma ist) Auss­chüt­tung von kör­pereigen­em Endor­phin als “Glück­shormon” beim Laufen, son­dern um eine orig­inär psy­chol­o­gis­che Betra­ch­tung des Laufens als reich­lich monot­o­nem Sport mit aus­ge­sprochen gleichmä0igem, lange Zeit gle­ich­bleiben­den Bewe­gungsablauf. Und die psy­chol­o­gis­chen Fol­gen des fort­ge­set­zten Dauer­laufes. Denn er geht davon aus: “Wenn das Laufen nicht psy­chisch wirk­sam wer­den würde, dann wäre es längst nicht so pop­ulär.” (16) Für seine Unter­suchung dieser Wirk­samkeit bedi­ent er sich zunächst der Lit­er­atu­rum­schau, vor allem Tiefen-Inter­views mit 100 Läufern.

Weit aus­holend fängt er an, beleuchtet — inge­samt aber eher knapp und in der Über­sicht — das Laufen in ver­schiede­nen Kul­turen, die kul­tische und kul­turelle Bedeu­tung des Laufens ind er Geschichte und begin­nt dazu selb­stver­ständlich in der Antike, d.h. in Griechen­land — inkl. Philip­pi­des, dem “Marathon”-Läufer — und macht dann einen großen Sprung in die Mod­erne, um sich vor allem der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts in mehreren Dekaden näher zu wid­men. Wirk­lich viel kommt dabei aber nicht herum, denn:

Die Ergeb­nisse aus mehr als 40 Jahren Lauf­forschung machen deut­lich, wie frag­men­tarisch sich die Erken­nt­nis­lage zum Laufen und sein­er wohltuen­den Wirkung bis­lang darstellt. Wed­er die immer wieder aufgewärmte These von der Suche nach dem Endor­phin-Kick noch Über­legun­gen, dass dem Läufer eine bes­timmte Per­sön­lichkeitsstruk­tur zuzuschreiben sei (Intro­vertiertheit), noch Über­legun­gen, dass das Laufen anti­de­pres­siv oder Stress reduzierend wirkt, ließen sich bis heute ein­deutig wis­senschaftlich bestäti­gen. (56)

Dann geht es näher zum Kern, um das Laufen. Das heißt, zunächst um den Anfang, den Beginn des Laufens, der Auf­nahme des Dauer­laufens in den Lebensvol­lzug des mod­er­nen Men­schen, der sich deut­lich von dem früher­er Epochen unter­schei­det, weil er anderen Notwendigkeit­en unter­liegt: “Es geht also um mehr oder weniger wichtige Dinge des per­sön­lichen Lebens. […] Es scheint, als hätte sich das Laufen der heuti­gen Zeit sein­er exis­ten­tiell-kul­turellen Fuk­tion­al­ität entledigt. Vorherrschend ist die Not des Indi­vidu­ums, die ihn zum Laufen bewegt.” (30) Und genauer: “Vom Laufen […]erwartet man eine per­sön­lich [sic!] Bere­icherung im Sinne ein­er heil­samen Wirkung, die sich spür­bar, am besten psy­chol­o­gisch spür­bar, man­i­festieren sollte.” (32) Deshalb kommt Marlovits zu dem Schluss: “Die Dop­pel­wirkung von Entspan­nung und Aktivierung ist dem mod­er­nen Men­schen Lauf­mo­tiv genug.” (32)

Die Gründe des Laufens kön­nen für ihn dabei immer auf zwei (ganz all­ge­meine) Motive bzw. deren Wahrnehmung und Prob­lema­tisierung zurück­ge­führt wer­den, auf Stag­na­tion oder Hyper­mo­bil­ität: “Wir behaupten also, dass sämtliche Beweg­gründe zum Laufen auf dieser Grundspan­nung verortet wer­den kön­nen.” (40) Aus­ge­hend von dieser Diag­nose, dass das Laufen also als ein Art Gegen­mit­tel für diese zwei defiz­itären Zustände des mod­er­nen Men­schen ange­gan­gen wird, kann er fest­stellen:

Das Laufen erscheint also als eine Art heilen­des Lösungsmit­tel für seel­siche Prob­lemzustände, die zum einen aus Ver­läufen des per­sön­lichen Lebens, zum anderen aber auch aus jenen der gesamtkul­turellen Entwick­lung resul­tieren kön­nen. (42)

Darauf beste­ht er immer wieder: Dass das Laufen nicht nur ein indi­vidu­elles Phänomen sei, son­dern auch Teil ein­er Kul­tur (aber ger­ade die zweite Seite bleibt im weit­eren dann doch sehr blass …). Wesentlich ist auf jeden Fall der Zusam­men­hang zwis­chen Leben und Laufen, den Marlovits immer wieder beobachtet: Laufen als so etwas wie eine Bewäl­ti­gungs- oder Ver­ar­beitungsstrate­gi­er für das “Leben” (was ja nur teil­weise logisch ist, denn Laufen ist ja auch wieder Teil des Lebens — aber das soll hier nicht weit­er stören): “Die Ten­denz, das Laufen in einen engen Zusam­men­hang zum eige­nen Lebens-Lauf zu brin­gen, ist bere­its ein erster Begrün­dungszusam­men­hang dazu, warum wir davon aus­ge­hen, dass in der uns so selb­stver­ständlichen Bewe­gung des Laufens eine gehörige Por­tion Psy­cholo­gie steckt.” (68) Und zwar in diesem Sinne:

Laufen formt das See­len­leben in ein­er ganz spez­i­fis­chen, sein­er Wirkung entsprechen­den Form um. Diese Umfor­mung geschieht bei allen Men­schen in die gle­iche Rich­tung. […] Jed­er Lauf ist der Ver­such, so wie möglich eine seel­is­che Umfor­mung voranzutreiben, denn je weit­er sie vor­angeschrit­ten ist, umso inten­siv­er wird die wohltuende Wirkung des Laufens für den Einzel­nen spür­bar. (71)

Und dann gehts ans Eigentliche: Welchen Effekt hat aus­dauern­des Laufen auf die Psy­che des Läufers denn nun genau? Welch­er Art ist denn nun diese “Umfor­mung”? (Die umgekehrte Wirkrich­tung, näm­lich den Ein­fluss der Psy­che auf das Laufen, der eine “Lauf-Psy­cholo­gie” erst kom­plett machen würde, betra­chtet Marlovits lei­der über­haupt nicht. Dabei hätte ger­ade das mich beson­ders inter­essiert. Genau­so fehlt eigentlich vol­lkom­men eine Betra­ch­tung des Laufens als Sport in psy­chlo­gis­che Hin­sicht.)

Worin liegt also Wirkung, die “psy­chis­che Mod­u­la­tion des Aus­gangszu­s­tandes” (75)?: Da ist zunächst etwa die “niv­el­lierende Kraft” des Laufens: “Damit ist gemeint, dass sich während des Laufens eine seel­is­che Ten­denz bre­it zu machen begin­nt, die sämtliche erlebten Unter­schiede und Dif­feren­zen vom Läufer zur Welt hin auszu­gle­ichen begin­nt.” (82) — “Der Rhyth­mus […] ist die zen­trale Meth­ode, mit der die Dif­ferenz und Gegenübergestelltheit von Ich und Welt ange­gan­gen wird.” (97)

Das wesentliche psy­chol­o­gis­che (d.h. ther­a­pieren­des) Moment des Laufens ist für Marlovits aber ein anderes: Seine Ähn­lichkeit mit dem (Tag-)Träumen und der dort geschehen­den Ver-/Bear­beitung des Unerledigten des Lebens: “Der Herrschaft der Traum­mech­a­nis­men im Lauf ist es auch zu ver­danken, dass sich plöt­zlich uner­wartete Löun­gen für Prob­leme des All­t­ags ein­stellen.” (107) Oder, wie es etwas später heißt: “das Laufen schafft Bedin­gun­gen in der GEsam­tor­gan­i­sa­tion ‘Men­sch’, in der drück­ende The­men und Prob­leme ein­er kör­per­liche-psy­chis­chen Bear­beitung über­lassen wer­den.” (129). Und die Pas­siv­ität, das Über­lassen oder Über­ant­worten der “Prob­leme” an das “Es”, ist für in dieser Hin­sicht erfol­gre­ich­es Laufen die entschei­dende Grundbe­din­gung.

Aus dieser Per­spek­tive ist der “innere Schweine­hund” des Läufers dann kein Energies­par­trick oder Faul­heit­san­fall des geschun­de­nen Kör­pers mehr, son­dern etwas anderes:

Der Läufer scheut sich, die kul­tivierte All­t­agsver­fas­sung des Ver­fü­gen-Kön­nens zugun­sten der trau­manalo­gen Form der Laufver­fas­sung einzu­tauschen. Was man also zu ver­mei­den sucht, ist weniger die Müh­sal des Laufens selb­st, als der de-kul­tivierende Aufwand der See­len­mod­u­la­tion durch das Laufen. (110)

Diese Stelle ist in gewiss­er Weise typ­isch für Marlovits: Deut­lich wird hier nicht nur seine Meth­ode, son­dern vor allem deren Ein­seit­igkeit. Denn, davon bin ich überzeugt, sowohl die rein kör­per­liche als auch die rein psy­chis­che Erk­lärung des inneren Schweine­hun­des ste­hen nicht allein, son­dern wirken zusam­men. Ger­ade diese Mis­chung von phys­i­ol­o­gis­chen und psy­chol­o­gis­chen Aspek­ten des Laufens ignori­ert Marlovits aber, ja, er verneint sie sog­ar.

Es bleiben mir also nach der Lek­türe diese Büch­leins einige Fra­gen. Doch das, was Marlovits aus­gear­beit­et hat, scheint mir dur­chaus zutr­e­f­fend zu sein. Nur vielle­icht nicht so solitär und abso­lut, wie er es hier darstellt. Method­isch ist die “Lauf-Psy­cholo­gie” für mich als Psy­cholo­gie-Laien nur halb überzeu­gend — die Lit­er­atur­recherche scheint mir eher ober­fläch­lich, ihre Dar­legung unge­nau, das Lit­er­aturverze­ich­nis ist fehler­haft. Vor allem aber frage ich mich, wofür Marlovits 100 Inter­views geführt hat — aus­gew­ertet wird für das Buch prak­tisch nur ein einziges. Die anderen geben ihm nur irgend­wie eine Art Hin­ter­grund­in­for­ma­tion — da hätte ich mir doch gerne mehr Details und inten­si­vere Beschäf­ti­gung bzw. Dar­legung der anderen Inter­views und ihrer Aus­sagen gewün­scht. Aber immer­hin, es ist ein dur­chaus inter­es­san­ter Vorstoß in eine Lücke der Lau­flit­er­atur.

Andreas M. Marlovits: Lauf-Psy­cholo­gie. Dem Geheim­nis des Laufens auf der Spur. Mit 29 Zeich­nun­gen von Rolf Jahn. 3. Auflage. Regens­burg: LAS 2006. 192 Seit­en. ISBN 978–3‑89787–167‑0.