Der Läufer und der Wolf – das ist schon einmal eine Ansage, die Mark Rowlands da im Titel seines Buches macht. Und leider ist sie etwas irreführend. Das ist aber auch schon fast der größte Makel, den ich an seinem Werk beim Lesen entdecken konnte.
Mark Rowlands entwickelt hier jedenfalls so etwas wie eine Philosophie des Laufens beim Laufen oder durch das Laufen. Laufen, darauf legt er immer wieder Wert, hat in der modernen Welt für den modernen Menschen eine besondere Stellung. Denn das Laufen ist Zweckfreiheit in Reinform. Hier, beim oder im Laufen, findet Rowland einen echten intrinsischen Wert, der in einer Zeit, die sich als instrumentelle Periode beschreiben lässt, eine große Ausnahme ist. Und – das ist ein wenig paradox – darin liegt gerade der Wert oder die Faszination des Laufens: Dadurch, dass es intrinsisch motiviert ist – also nicht durch Überlegungen wie längeres/gesünderes Leben, besseres Aussehen, schnellere Zeiten – zeigt uns das Laufen, dass es auch in einer (fast) durchgehend instrumentell organisierten und verfassten Welt intrinsische Werte geben kann und auch gibt:
Laufen ist das verkörperte Erfassen von intrinsischem Wert im Leben. Das ist der Sinn des Laufens. Das ist es, was Laufen wirklich ist. (227)
Laufen ist einer der Momente im Leben, wo die Zwecke und Ziele entfallen. (216)
Und das führt wiederum zu einer weiteren, eminent wichtigen Beobachtung über den Status des Laufens:
Laufen […] ist ein Weg, um zu verstehen, was wichtig oder wertvoll im Leben ist. (15)
Das entwickelt Rowlands in einer Art Free-Flow-Philosophieren, einem Freistil-Denken: Ereignisse, Abschnitte seiner Biographie, das Tun des eigenen Lebens dienen ihm als Anlass und Impuls, über größere Zusammenhänge nachzusinnen (und die Leserinnen daran teilhaben zu lassen). Manchmal einfach so, manchmal mit System, manchmal mit Rückbezug (aber eher allgemein, nicht speziell oder ausgesprochenn detailliert) auf die Philosophiegeschichte. Als wesentlich zeigt sich in Der Läufer und der Wolf, das neben anderem auch ein Läuferbuch ist (mit dem typischen Abschreiten der eigenen Läuferkarriere – dem Laufen in der Kindheit, dem Training, dem ersten Marathon, den Hunden („Wölfe“!) als Motivatoren fürs Laufen), die Beobachtung der Prozesshaftigkeit der Zeit, also: des Alterns. Zu den typischen Eigenheiten eines Laufbuchs gehört auch die wiederholte Beschwörung eines „Herzschlag des Laufes“, die Rowland immer wieder erzählt: Jeder Lauf hat für sich seinen eigenen Herzschlag, sein eigenes Leben, das es zu entdecken, zu spüren und zu erfahren gilt – ein Moment übrigens, an dem der Intellekt seine Grenzen aufgezeigt bekommt.
Außerdem beobachten Rowlands noch eine Veränderung in Stufen beim und durch das Laufen auf der Langstrecke: Er beschreibt das als spinozistische, cartesianische, humesche und sartresche Phasen des Laufens, die während dem Laufen zu einer zunehmenden „Ich-Auflösung“ führen und den Läufer, das ist natürlich der entscheidende Punkt, Freiheit schenken, ihn (von sich und der Welt) befreien.
Wenn ich denke, erfahre ich mich selbst normalerweise dabei. Beim Langstreckenlauf erfahre ich mich nicht beim Denken, weil die Kontrolle, die ich über mich selbst habe, weniger wird. An die Stelle des Denkens treten Gedanken, anscheinend ganz und gar nicht meine eigenen, die aus dem Nirgendwor kommen, völlig unerwartet, und gleich wieder im Dunkel verschwinden. (77)
Durch dieses ganze Bündel an dem Laufen spezifisch eigenen Erfahrungen (Zweckfreiheit, Herzschlag, Be-Freiung) bekommt das Laufen seinen spezifischen Wert für den modernen Menschen und seine Stellung im Leben: Das Laufen kann (nicht muss!) uns den „inneren Wert des Lebens“ nicht unbedingt zeigen, aber zumindest aufzeigen oder vorführen:
Das Laufen, so meine These, hat einen inneren Wert. Und deshalb kommt man, wenn man läuft und es aus dem richtigen Grund tut, mit dem inneren Wert des Lebens in Berührung. (14f.)
Und damit kann das Laufen ja ungeheuer viel – nämlich nicht weniger, als den Sinn des Lebens zu erschließen:
Aber Laufen ist ein Weg, und als solcher ermöglicht das Laufen es uns, die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten (15)
Mark Rowlands: Der Läufer und der Wolf. 2. Auflage. Berlin: Rogner & Bernhard 2014. 240 Seiten. ISBN 9783954030484.
Langstreckenlaufen ist eine zielorientierte Leistung, die zeigt, wie bankrott das Konzept der zielorientierten Leistung ist. (39)
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