Der Titel ist recht vollmundig und hat mich sofort gepackt und neugierig gemacht: Die Philosophie des Laufens — das klingt spannend und vielverheißend. Nicht etwa „eine“ Philosophie oder „Laufen und Philosophie“, nein, Austin und Reichenbach verheißen auf diesen knapp 200 Seiten Die Philosophie des Laufens. Und leider können sie dieses Versprechen so überhaupt nicht einlösen.
Die Nennung der beiden Herausgebernamen ist allerdings schon ein Hinweis auf ein Problem, dass ich mit dem Buch habe. Denn letztlich sind das eher zwei Bücher. Der eigentliche Kern basiert auf einer englischsprachigen Veröffentlichung, die Austin bereits 2007 mit dem ungleich passenderen Titel Running & Philosophy: A Marathon for the Mind herausgab. Doch von den 19 dort gedruckten Aufsätzen hat der deutsche Herausgeber nur acht übersetzt und übernommen und die „Lücke“ mit deutschen Beiträgen gefüllt. Die sind aber nun alle gerade überhaupt keine philosophische Beschäftigung mit dem Laufen, so dass sich das sehr sorgfältig und schön hergestellte Buch gleich mal als Mogelpackung erweist — oder, um es mit einem Läuferbild zu sagen, der Marathon ist hier kaum 20 Kilometer lang.
Und wenn man das Bild noch weiterspinnt: Statt eines schönen und schwierigen Berg- oder Landschafts-Marathons erwartet den Leser eine wenig inspirierende Strecke durch flache Industriegebiete. Denn selbst wenn ich die deutschen Beiträge erst einmal außen vorlasse — der Ertrag der Texte ist weder auf philosophischer noch auf läuferischer Seite sehr hoch.
Das zweite von drei Vorworten entwickelt zunächst das Programm:
[…]Läufer sind auf der Suche nach mehr als nur der Ziellinie oder dem Ende der Trainingsrunde. Für viele ist Laufen auch ein Weg, um Wahrheiten zu finden, über sich selbst und die Dinge in ihrem Leben, die ihnen etwas bedeuten. Für viele von uns ist Laufen ein Weg, sich selbst kennenzulernen, ein Teil unseres Weges zum Glücklichsein. Das Laufen schafft uns Freiräume, in denen wir uns über unser Leben und seine großen Fragen Gedanken machen können. Und an ebenjenem Punkt überschneiden sich die Ziele des Läufers und die des Philosophen. Sowohl das Lauf als auch das Philosophieren können uns in ihren besten Momenten helfen, etwas über uns selbst zu erfahren und darüber, was wichtig ist; vielleicht sogar etwas über Wirklichkeit an sich.
Die hier geweckten Erwartungen kann das Buch dann aber kaum einlösen. Sicher, einige interessante Ideen und Anregungen stecken da drin. Aber die werden fast immer nicht ausreichend entwickelt, um wirklich eine „Philosophie des Laufens“ begründen zu können.
Michael Austin überträgt das Konzept der Freundschaft aus Aristoteles Nikomachischer Ethik auf Lauffreundschaften — ein eigentlich naheliegender Transfer, der auch passt, aber wenig neue Erkenntnis oder Einsicht ins Laufen liefert. Raymond Belliotti bringt in einer etwas gezwungenen Synthese Laufen und die Macht über Nietzsches Machtvorstellungen zusammen (konnte mich überhaupt nicht überzeugen).
Ganz unpassend und wenig erkenntnisfördernd fand ich den Versuch von Gregory Bassham, sieben “Voraussetzungen” des Erfolgs (im Leben, der Karriere und überhaupt) auf das Laufen anzuwenden. Das ist genau so, wie es sich anhört: Selbsthilfegeblubber.
Raymond Vanarragons „Lob des Joggers“ führt ein auf den ersten Blick vielversprechendes Kriterium zur Unterscheidung von Joggen und Laufen ein: Nicht das Tempo, sondern das Ziel führt zur Differenzierung. Joggen heißt dann, sich bewegen, um fit zu bleiben oder zu werden. Laufen dagegen hat andere Ziele: prize und challenge, also ungefähr: Sieg und/oder Herausforderung (Vannaragon unterscheidet beim Laufen noch einmal zwei Typen). Eine zumindest theoretisch durchaus überzeugende Typologie, finde ich — die müsste man mal empirisch testen …
Am spannendsten und interessantes ist der Text von Christopher Martin zum „Laufen als ästhetische Erfahrung“, der sich dafür bei Deweys Ästhetik-Konzept bedient. Heather Reids „Die Freiheit des Langstreckenläufers“ ist eine existentialistische Lektüre von Alan Sillitoes The Loneliness of the Long Distance Runner, die aber kaum über eine behutsam kontextualisierende Paraphrase hinauskommt. Einen durchaus interessanten Ansatz bietet Jeremy Wisnewski, der die veränderte Weltwahrnehmung beim und durchs Laufen unter die Lupe nimmt und sich dafür der Phänomenologie von Meleau-Ponty bedient, leider aber etwas oberflächlich bleibt (das ist ja eine grundsätzliche Krankheit aller Beiträge in diesem Band).
Aber: Auf den ersten Blick nett, aber einfach nur Anwendung von ein paar verstreuten Ideen der Philosophiegeschichte auf die Tätigkeit des Laufens oder den Status des Läufers. Also eigentlich in der falschen Richtung gedacht: Laufen und Läuferinnen dienen hier vor allem als Exemplifikationen philosophischer Theoreme oder Überzeugungen. Erwartet hätte ich hingegen eine philosophische Untersuchung des Laufens (Mark Rowlands gelingt das in Der Läufer und der Wolf zwar auch nicht erschöpfend, aber wesentlich besser als diesem Band), nicht eine läuferische Betrachtung der Philosophie.
Ganz besonders ärgerlich fand ich aber das deutsche Füllmaterial. Viel mehr ist das nämlich nicht. In einem Blog hätten die besser Platz gefunden (da kommen sie bzw. ihr Kern, ihre Idee ja auch her): Isabel Bogdan schreibt über ihren ersten 10-km-Lauf, Florian Baschke über das Laufen mit Iphone-Apps, Jan Drees über das Leichtathletiktraining und so weiter — das Problem ist aber: Philosophie oder gar eine Philosophie des Laufens (oder wenigstens eine Verknüpfung oder Verbindung von Philosophie und Laufen) kommt da überhaupt nicht vor, so dass die Texte — die als einzelne durchaus nett sind — mich an diesem Ort, in diesem Zusammenhang einfach stören: Das ist Unsinn, eine Mogelpackung. Zumal Peter Reichenbach leider überhaupt nicht erklärt, warum er diesen Weg wählt, warum das originale Konzept einer philosophischen Beschäftigung aus unterschiedlichen philosophischen Blickwinkeln und Denkschulen mit verschiedenen Aspekten des Laufen nicht beibehalten wurde. So bleibt ein Buch, das weder Jogger noch Läufer, weder Spaziergänger noch Walker ist, sondern ein unerquickliches Kuddelmuddel.
Michael W. Austin, Peter Reichenbach (Hrsg.): Die Philosophie des Laufens. Hamburg: mairisch 2015. 197 Seiten. ISBN 978–3‑938539–37‑8