150 Fragen beantwortet Norbert Madry, der selbst Ultraläufer mit langer Erfahrung und auch Trainer ist, auf den gut 170 Seiten seines gerade erschienen Ultralauf-Kompass. Eigentlich sind es sogar 300 Antworten: Es gibt nämlich immer eine kurze, sehr pointierte Antwort, die meist nur aus einem knappen Satz besteht, und eine ausführliche, erklärende, die sich auch mal — aber nur selten — über mehrere Seiten ziehen kann. Manchmal ist der Ton etwas arg schnoddrig für meinen Geschmack, aber das ist natürlich eine subjektive Einschätzung.
Macht Ultralaufen doof?
Ja, aber glücklicherweise nur vorübergehend. (24)
Eine Menge Stoff also. Und Madry packt in den Fragenkatalog auch so ziemlich alles, was wichtig ist — und wenn er etwas nicht behandelt, wie zum Beispiel die Ausrüstung und Ernährung, dann weist er zumindest darauf hin und begründet das mit dem fehlenden “Ultraspezifikum”: Wenn das, was fürs Marathonlaufen gilt, auch beim Ultralauf Anwendung findet, mag er es nicht auch noch mal behandeln. Ein sehr sympathischer Ansatz. Denn ein Buch, dass sich an Ultraläuferinnen (oder zumindest Ultra-Interessierte) wendet, wird in der Regel nicht auf Laufnovizen treffen — ein gewisses Grundwissen dürfte also vorhanden sein und das setzt Madry auch voraus.
Das Frage-Antwort-Format passt ganz gut, weil er recht bodenständig vor allem auf (seine) Erfahrungswerte setzt, ohne große Theorien: Nach dem Motto “Aus der Praxis, für die Praxis” ist der Ultralauf-Kompass tatsächlich so etwas wie “ein kleiner, sehr subjektiv gefärbter Laufkumpel in Buchform” (8). Gut gefallen hat mir auch, dass er immer wieder einräumt: Hier präsentiere ich meinen eigenen Blick auf die Materie, manche Antworten könnte man auch anders geben und nicht alle sind unbedingt für alle gültig. Er verfährt also nicht diktierend (so muss man es machen), sondern weist darauf hin: So kann man es machen, so hat es sich zumindest bewährt …
Auch wenn er im Vorwort das Buch ausdrücklich nicht nur für Ultras, sondern auch für interessierte Läufer oder Neugierige ob der Verrücktheiten, die verstehen wollen, was andere zu Ultras treibt, vorsieht, so ist das doch schon ein Laufbuch für Aktive. Madry konzentriert sich dabei vor allem auf die beiden “klassischen” Ultradisziplinen 100 km und 24 Stunden, bleibt also vorwiegend beim Straßenlauf. Zugleich sind die Ratschlägen, Hinweise und Antworten aber doch in der Regel so allgemein gehalten, dass sie sich für die meisten Ultrastrecken anwenden lassen.
Was ich auch noch festgestellt habe: Nachts kann man entweder schlafen oder laufen. (91)
Er fängt dabei mit allgemeinen Überlegungen zum Ultra an, bevor sich der Hauptteil — nämlich fast 100 Seiten — mit dem Training, untergliedert nach Grundlagen (als “Bausteine“ sind die recht treffend bezeichnet), Plänen, Besonderheiten und Jahresplanung, befasst. Abschließend gibt es noch zwei Kapitel zum Wettkampfgeschehen sowie der Psychologie und Soziologie des Ultras.
So weit ich das erkennen und beurteilen kann, sind das vorwiegen vernünftige Ratschläge, mit denen mal nicht viel falsch machen dürfte. Das Training zum Beispiel wird klassisch periodisiert in Grundlagen, spezielle Vorbereitung (mit Peak und eher zurückhaltendem Tapering), Wettkampfphase und Regeneration. Natürlich liegt der Schwerpunkt dann auf langen Läufen, die eigentliche Tempoarbeit erledigt Madry in der Nebensaison und lässt sie im Haupttraining nur noch erhaltend reaktivieren. Dabei gilt sowieso: Im Ultralauf-Kompass wird sich nicht für jedes Fitzelchen Trainingsgestaltung eine absolut gültige Antwort finden lassen. Denn Madry geht von einem mündigen, nach- & mitdenkenden Athleten aus, der auch schon über Lauferfahrung verfügt — das ist ja wohl auch der Normalfall, dass man meist schon ein paar Marathons und Kürzeres in den Beinen hat, bevor man an Ultras, zudem auch noch leistungsinteressiert, herangeht. Madry spricht dabei immer wieder gerne vom „läuferischen Gesamtkunstwerk“ — und das ist auch typisch: Nicht ein einzelner/wenige Ansatzpunkt ist erfolgsverheißend, sondern es sind sehr viele, sehr verschiedene Stellschrauben, an denen zur Leistungsverbesserung, zur Ausreizung der persönlichen läuferischen Potenzials, gedreht werden kann.
Ich habe es nicht ausprobiert (und auch nicht alles durchgerechnet). Beim Lesen des Ultra-Kompass sind mir aber aus meiner (bescheidenen) Ultraerfahrung jedoch keine groben Unstimmigkeiten aufgefallen oder Sachen, die mir suspekt erschienen. Allerdings gibt es eben auch keine „neuen“ Weisheiten — ganz wie es Madry eben verspricht. Sehr zurückhaltend (um es so zu formulieren) fand ich seine Einstellung zur Psyche beim laufen — ihm liegen die körperlichen Dinge offenbar mehr (und sie sind ja auch absolute Voraussetzung). Aber ich würde der mentalen Vorbereitung und Verfassung während Wettkampf/Lauf etwas mehr Bedeutung beimessen.
Aber der Ultralauf-Kompass ist auf jeden Fall lesenswert. Und er ist vor allem als Nachschlagewerk sehr hilfreich, wenn man sein eigenes, schlummerndes Halbwissen noch mal überprüfen oder korrigieren möchte …
Aber eine schöne Antwort auf die oft gestellte nervige Frage »Wovor läufst Du eigentlich denn weg??« ist: »Ich laufe vor nichts weg, sonder zu allem hin. Auch zu mir selbst, und ich bin noch lange nicht da.« (171)
Norbert Madry: Der Ultralauf-Kompass. Für alle, die es wirklich wissen wollen. Grünwald: Copress 2016. 176 Seiten. ISBN 9783767911116.
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